Christian Nitsche, Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks
Bildrechte: BR
Bildbeitrag

Christian Nitsche, Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks

Bildbeitrag
>

Kommentar: Bundespräsident blendet Politikversagen aus

Kommentar: Bundespräsident blendet Politikversagen aus

Der Bundespräsident müsste bei Corona die Handlungsschwäche von Bund und Ländern kritisieren. Aber er appelliert nur an die Bürger. Steinmeier blendet das politische Versagen aus und beschädigt so auch sein Amt, kommentiert BR-Chefredakteur Nitsche.

Mit Verlaub Herr Bundespräsident, Sie kommen Ihrer Verantwortung nicht nach. Sie appellieren heute zwar in einer Sonntagszeitung an die Bürger, sie sollten Kontakte reduzieren, damit "wir das Leben nicht wieder vollständig herunterfahren müssen". Aber kein einziger Satz in Richtung der politischen Entscheidungsträger. Sollen es jetzt die Wählerinnen und Wähler alleine in die Hand nehmen? Ein Privat-Lockdown, weil Bund und Länder, alte und neue Regierung, keinen Nenner finden? Warum reden Sie nicht auch der Politik ins Gewissen?

Fußballspiel statt Ministerpräsidentenkonferenz

Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, ermöglichte gestern ein Fußballspiel vor 50.000 Menschen, eine potentielle Virusbörse. Wüst hatte als Vorsitzender tagelang nicht den Mumm, zu einer Ministerpräsidentenkonferenz einzuladen. Er hätte es spätestens am Freitag machen müssen, nachdem klar war, die neue Corona-Variante Omikron ist in Europa angekommen. Mittlerweile verbreitet sie sich schon in Deutschland.

Herr Steinmeier, gerade jetzt wäre es am Bundespräsidenten, Tacheles zu reden, auch mit ihrem Parteifreund und künftigen Kanzler Olaf Scholz. Er möchte erst einen Krisenstab einrichten, als ob noch Informationen fehlen würden. Mehr als drei Viertel der Krankenhäuser in Deutschland müssen OPs verschieben, die Luftwaffe verlegt Patienten, die Inzidenz erreicht einen weiteren Höchststand, Intensivmediziner sehen sich kurz vor einer Triage. Mag sein, dass Scholz am Samstag twitterte, es gäbe nichts, "was nicht in Betracht gezogen werden kann". Aber das ist nicht mehr als ein völlig vages in Aussicht stellen von Maßnahmen. Die Leopoldina hat am Samstag gefordert, Kontakte ab Montag für mehrere Wochen "deutlich zu reduzieren". Und nichts passiert. Wie träge ist die künftige Regierung schon jetzt?

"Hier zählt jeder Tag", mahnte Angela Merkel am Donnerstag. Aber Sie vermag es offenbar auch nicht mehr, alle Entscheider von Bund und Ländern schnell an einen Tisch zu bekommen. Niemand hat sich die jetzige Lage gewünscht. Sie ist die Konsequenz einer viel zu langen politischen Reaktionszeit.

Warten auf die Gesundheitskatastrophe?

Seit einer Woche ist Österreich im Lockdown, viele politischen Entscheider bei uns umschiffen sogar den Begriff. Sie fühlen sich wohl noch gebunden an Versprechen im Wahlkampf, es werde keinen Lockdown mehr geben. Wollen sie eine Gesundheitskatastrophe abwarten, um eine Begründung zu haben, von ihren Versprechen und krassen Fehleinschätzungen abzurücken? Je länger sie Entscheidungen allerdings verzögern, desto klarer die Richtung der Fingerzeige. Auf wen werden die Angehörigen der Corona-Toten der nächsten Wochen deuten? Wen werden die verantwortlich machen, die jetzt keinen Intensivplatz erhalten, keine Transplantation, keine Krebs-OP? Erst in einigen Tagen wird klar sein, wie stark der Schutz der bisherigen Impfstoffe wegen Omikron sinkt. Aber möchte man auch das erst noch abwarten? Im Zweifel für die Sicherheit, das ist noch nicht politische Maxime. Auch ohne Omikron hätte es längst ein Bund-Länder-Treffen geben müssen.

Herr Bundespräsident, wenn Sie schon nicht öffentlich die alte und neue Bundesregierung in die Pflicht nehmen wollen, dann greifen Sie zum Telefon. Nach Ihrem temperamentlosen Appell wird jedenfalls kein Ruck durch Deutschland gehen. Intensivärzte beschreiben die Lage mit weitaus passenderen Worten. Dass Sie Politiker schonen, liegt hoffentlich nicht an der anstehenden Wahl des Bundespräsidenten im Februar. Schönen ersten Advent, Herr Steinmeier. Zünden Sie sich eine Kerze an.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!