Da müsse es sich wohl um das "Delirium eines Kranken" handeln, schimpfte der Vorsitzende des Finanzmarktausschusses im russischen Parlament, Anatoli Aksakow, nachdem im vergangenen November der Wirtschaftsfachmann Alexei Zubets in einem Radiointerview vorgeschlagen hatte, russische Bankkonten "einzufrieren", also Abhebungen von Sparguthaben vorübergehend zu unterbinden, damit nicht "alles auf einmal" ausgegeben werde. Zentralbankchefin Elvira Nabiullina nannte das damals "völligen Blödsinn". Die Begründung des Experten: "Es ist klar, dass die Leute dieses Geld nehmen und dem Markt zuführen werden. In diesem Fall wird es zu einer grassierenden Inflation kommen."
"Unmut äußerst schwer zu neutralisieren"
Jetzt sorgten Spekulationen mehrerer reichweitenstarker Telegram-Kanäle über ein mögliches Einfrieren der Bankkonten abermals für viel Aufsehen. Zwar wetterten Patrioten, die Diskussion darüber sei "Sünde", doch andere warnten, die Wahrscheinlichkeit für so einen drastischen Schritt sei "nicht null": "Natürlich ist alles möglich. Putin ist allerdings zu rational und zu vorsichtig, um sich inmitten militärischer Operationen und vor dem Hintergrund der allgemeinen Müdigkeit und Apathie der Gesellschaft zu einem Schritt zu entschließen, der dem Vertrauen der Bürger in die Regierung einen katastrophalen Schlag versetzen würde."
Der zu erwartende Unmut sei "äußerst schwer zu neutralisieren", zumal auch die Vermögenden betroffen wären. Nur eine "tiefe Krise in der russischen Wirtschaft und wachsende Besorgnis im Kreml" könnten einen derartigen Schritt als letztes Mittel rechtfertigen.
Politologe Ilja Graschtschenkow sah "noch keinen Grund zur Sorge", einen "absolut zuverlässigen Schutz für die Anleger" gebe es jedoch nicht. Er vermutete, die Gerüchte über ein "Einfrieren" von Konten sollten wohl die Zentralbank unter Druck setzen. Die hatte den Leitzins auf 21 Prozent angehoben, um die Inflation zu bremsen. Das verärgerte große Teile der Wirtschaft. Andere argumentierten genau umgekehrt: Die Zentralbank selbst stecke hinter den Spekulationen, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen.
In der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times" kam der Wirtschaftsfachmann Sergei Schelin zum Ergebnis, die finanziellen Rücklagen des Kremls seien weitgehend erschöpft: "Wenn Putin die Waffenstillstandspläne ablehnt und beschließt, den Krieg fortzusetzen und auszuweiten, muss er damit beginnen, den Lebensstandard des einfachen Volkes zu senken. Durch Inflation, Abwertung des Rubels, erhöhte Steuern, Beschränkungen bei der Verwendung von Ersparnissen und die Beendigung ziviler Projekte." Sobald ängstliche Anleger an der Stärke der russischen Finanzen zweifelten und anfingen, ihr Geld abzuheben, werde das System "sofort den Anschein von Normalität verlieren".
Der kremlkritische Blogger Anatoli Nesmijan (121.000 Follower) sagte den Russen voraus, dass deren Einlagen nach einem eventuellen "Einfrieren" wertlos sein würden: "Es gibt eine vernünftige Erklärung für das, was passiert: Insolvenz. Die Regierung ist bankrott, aber da niemand in ihr, der bei klarem Verstand ist, sie freiwillig aufgeben würde (im byzantinischen Modell geschieht das im Allgemeinen nur durch den Tod), wird sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um den unvermeidlichen Zusammenbruch des Bankrotteurs hinauszuzögern."
"Glück beruht nicht auf Geld"
Der systemtreue Blogger Dmitri Sewrjukow (53.000 Fans) erwartet mit Hinweis auf die russische Geschichte keine gesellschaftlichen "Verwerfungen", falls es zum Äußersten kommt: "Das Land ist seit langem daran gewöhnt, dass Glück nicht auf Geld beruht, sondern auf der Einhaltung der mit dem Staat getroffenen Regeln, die unter russischen Bedingungen schon oft verletzt wurden und den damit einhergehenden Geldverlust verschmerzbar machten. Auch die plötzliche Anhebung des Rentenalters im Jahr 2018 war eine Art ungeplante und unerwartete Manipulation des Geldvermögens eines bestimmten Teils der Bürger." Der Teufel sei "nicht so entsetzlich, wie er dargestellt" werde.
"Irritationen vermeiden"
Ein Telegram-Kanal mit 338.000 Fans schrieb, schon jetzt erschwere manche Bank "versuchsweise" Abhebungen, um Kundenreaktionen zu testen. Das "Einfrieren" von Konten komme einer "nationalen Katastrophe" gleich: "Man muss nicht von den Aussagen und Zielen der Zentralbank ausgehen, sondern von ihren Möglichkeiten." Ein Kolumnist mit 346.000 Fans wollte aus ungenannten Quellen erfahren haben, dass der Kreml nicht daran denke, Ersparnisse zu blockieren: "Sie halten es für nötig, die Russen in dieser Frage zu beruhigen, um weitere Irritationen zu vermeiden." Und noch ein Argument war zu lesen: Wenn der russische Staat Geld benötige, könne er es ja jederzeit drucken.
Bei einer nicht repräsentativen Umfrage auf einem der großen Telegram-Kanäle sagten von den rund 38.000 Teilnehmern 30 Prozent, sie erwarteten ein Einfrieren der Konten, 58 Prozent waren nicht so pessimistisch, für zwölf Prozent war es "kein Thema".
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