Eigentlich will die namenlose Ich-Erzählerin mit Frank nach Indonesien fahren, aber dann taucht Andy Schwarz plötzlich bei einem Literaturfestival auf. Amerikaner, Schriftsteller, ein extremer Typ, 20 Jahre älter, voller "animalischer Sehnsucht", wie es im Roman heißt. Andy nennt die Heldin des Romans "Bubusch" und gibt dem neuen Buch von Julia Kissina damit seinen Titel. "Das ist eigentlich eine Karikatur der russischen Sprache oder der slawischen Sprachen, das ist irgendwas zwischen Babuschka und Matrjoschka. Was es genau ist, weiß niemand", sagt Julia Kissina.
Hatte sie in ihrem ersten Roman ihre Kindheit in Kiew ausgeleuchtet, im zweiten ihren künstlerischen Reifungsprozess in Moskau, wo sie am Gerassimow-Institut für Kinematographie studiert hat, geht es in ihrem mittlerweile dritten Roman "Bubusch" um eine Erkundung amerikanischer Seelenleben, in denen sich europäische Traumata fortsetzen.
"Bubusch" psychologisiert nicht
Andy kann sich nicht mehr von Bubusch losreißen, er bombardiert sie mit Nachrichten und reißt sie nachts aus dem Schlaf, um ihr fiebrig erregt von der Bronx zu erzählen. Und von "Überdosen, Komas, bipolaren Störungen, manischen Zuständen, von Leuten, die Chlorpromazin und Lithium nehmen, von Blutvermischungen, von Mördern, von der vergeblichen Suche nach Linderung, davon, wie schwer es ist, wenn man in psychologische und emotionale Schlingen gerät, die einen in sexuelle Abhängigkeit, Untreue und psychische Krankheit führen", wie die Autorin Kissina in ihrem Buch schreibt.
Bubusch ist von so viel seelischem Ruinenrealismus keineswegs abgeschreckt, sondern "seltsamerweise verzaubert". Eine Amour fou packt die beiden, himmelhoch jauchzend, zu Tode geliebt. Bubusch zieht zu Andy nach San Francisco. Zurück bleibt ihr Sohn, der an Schizophrenie leidet. In der Pubertät, zwei Jahre vor Ende der Schulzeit, fing er plötzlich an, nervös zu werden, Angstzustände und Wahnvorstellungen ergriffen Besitz von ihm. Als die Diagnose kommt, durchzuckt die Romanheldin kurz die Idee, Schluss mit ihrem und dem Leben ihres Sohnes zu machen. Aber: "Dann fand ich mich damit ab. Er wohnte jetzt allein, ich hatte eine innere Distanz aufgebaut und half ihm, so gut ich konnte", heißt es im Buch.
Es geht um Übertreibung und Extreme
"Bubusch" psychologisiert nicht. Es ist vielmehr ein temporeicher, turbulenter Roman, er verirrt sich nicht in Fußnoten. Immer geht es um Übertreibung und Extreme, um Grenzüberschreitung und die Fahrt, die das Leben plötzlich bis zur Raserei aufnehmen kann. Sie verbinde Sachen, die auf den ersten Blick unverbindlich seien, aber im Leben existierten, sagt Julia Kissina. "Weil das Leben ist viel absurder und unglaublicher als unsere Fantasie, unsere Vorstellungen. Es gibt solche Wendungen, die man wirklich nie erwartet hat. Auch in unseren Köpfen passieren diese Wendungen, und das ist das, was für mich interessant ist."
Andy erkennt in Bubusch seine verstorbene Mutter wieder. Sie war als Kind in Frankreich dem Holocaust entkommen, der Roman erzählt die Geschichte ihrer Flucht über Venezuela in die USA. Ihre traumatischen Erlebnisse leben fort in den Gespenstern, mit denen Andy wiederum zu kämpfen hat. Er kommt nicht los von seiner Mutter, sie lauert geisterhaft am Kopfende seines Bettes, raucht unter dem Dach oder vergisst ihren Lippenstift im Bad.
Zerrüttung als zentrales und hochaktuelles Thema
Zerrüttung, das ist das zentrale und hochaktuelle Thema Julia Kissinas Roman, zieht weitere Zerrüttung nach sich. Denn das, was gerade in der Ukraine oder in Israel passiere, das bleibe über Generationen, sagt Kissina. "Das geht in unsere Körper, das geht in unsere Knochen: Leid und Aggression und am Ende Wahnsinn. Dann braucht man Exorzismus. Und Literatur ist eine Art Exorzismus."
Der Roman zieht denn auch alle Register: Julia Kissina schreibt wie im Strudel, Gegenwart und Vergangenheit wirbeln genauso durcheinander wie der Ton: mal aufgeräumt und nüchtern, dann wieder pathosgesättigt und humorvoll. "Bubusch" erzählt von dem Mut, den Schatten des eigenen Ichs zu überspringen, sich in die Fremde zu wagen und wieder neu zu sich zurückzufinden.
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