Ein Junge kauert sich in der Ecke seines Zimmers am Fußboden sitzend zusammen. (Symbolbild)
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"Geschichten, die zählen" haben Menschen aufgeschrieben, die als Kinder und Jugendliche Opfer von sexueller Gewalt geworden sind.

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"Geschichten, die zählen": Zeugnis gegen sexuellen Missbrauch

"Geschichten, die zählen": Zeugnis gegen sexuellen Missbrauch

Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat ein neues Internetportal freigeschaltet: "Geschichten, die zählen" haben Menschen aufgeschrieben, die als Kinder und Jugendliche Opfer von sexueller Gewalt geworden sind.

Jede Geschichte schlägt auf den Magen und liegt dort wie ein Stein. Das Kind, das vom Vater, den Brüdern missbraucht und dann an die Männer der Nachbarschaft verkauft wurde. Das Kind, das vom Pastor nach Hause in die Badewanne "eingeladen" wurde. Das Kind, das Tennis spielte und mit dem Tennislehrer "duschen" musste, wieder und wieder.

  • Zum Artikel "Missbrauch im Orden: Papst Benedikt streitet frühe Kenntnis ab"

Warum müssen solche Geschichten erzählt werden, warum sind das Geschichten, die zählen? Matthias Katsch, der vor zwölf Jahren seine eigene Geschichte des Missbrauchs öffentlich gemacht hat und der jetzt in der Kommission mitarbeitet, hat eine klare Antwort auf diese Fragen:

Keine Macht den Tätern

Es ist ein Signal an die Betroffenen, dass ihre Geschichte, ihr Schicksal wichtig sind. Die Möglichkeit, ihre Geschichten aufzuschreiben, bedeutet, dass sie ihre Perspektive darstellen können, dass nicht die Täter und ihre Verbrechen, sondern die Opfer im Mittelpunkt stehen. Anerkennung und Respekt für das Leid und für den Weg der Bewältigung. Denn diese Geschichten aufzuschreiben, bedeutet auch, mutig zu sein.

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Raus aus der Tabuzone

Brigitte Tilmann von der Kommission zur Aufarbeitung erzählt, dass auf dieser Seite Betroffene oft zum ersten Mal über das Erlebte sprechen oder schreiben. Sie haben es der Kommission erzählt, mit ihrer Zustimmung ist es nun auf dem Portal nachzulesen, in ihren eigenen Worten, anonymisiert.

100 Geschichten erzählen von der Dramatik, dem lebenslangen Leid, aber sie zeugen auch von Trost und Hoffnung, von Bewältigung und Rettung, und manche wünschen sich, dass die Gesellschaft nicht mehr wegschaut oder weghört, wenn sexueller Missbrauch passiert, bis heute.

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Das "Unbeschreibliche" bekommt eine Fratze

Es sei eine Gratwanderung, über den Missbrauch zu schreiben, sagt Brigitte Tilmann, es sei eine Gratwanderung, die Texte zu bearbeiten, und es sei eine Herausforderung, dabei Voyeurismus zu vermeiden. Warum also hat sich die Kommission entschieden, dieses "Herzensprojekt Geschichtenportal", so nennt es Brigitte Tilmann, zu veröffentlichen?

Matthias Katsch gibt darauf eine überzeugende Antwort: Man könne sich nun nicht mehr hinter dem diffusen Begriff des "Unbeschreiblichen" verstecken, wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht. Konkrete Erfahrungen werden sichtbar und wirken dem Tabu entgegen. Du bist nicht allein, signalisiert das Portal den Opfern – und der Gesellschaft signalisiert es: Schau hin!

Portal als "würdiger Erinnerungsort"

Das Portal soll ein Ort der Zeugenschaft und der Hoffnung sein, dass Gewalt überwindbar ist. Es soll auch dann bestehen bleiben, wenn es die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs nicht mehr gibt. Es ist deutschlandweit einzigartig. Die Geschichten haben Männer und Frauen aus ganz Deutschland aufgeschrieben, aus der BRD genauso wie aus der DDR, es geht um Taten in der Schule, in der Familie, im sozialen Umfeld, im Sportverein, im Heim, in der Kirche, von 1950 bis heute.

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