Tastender Gehstock auf einem Holzboden (Symbolbild)
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"Ist hier das Ende?": Menschen mit Behinderung in der Pandemie

"Ist hier das Ende?": Menschen mit Behinderung in der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat unseren Alltag verändert: Maske tragen, Abstand halten - oft eine Herausforderung, vor allem aber für Menschen mit Behinderung. Einige teilen ihre Erfahrungen heute am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung.

Von
Astrid Uhr

"Beim Einkaufen gibt es jetzt oft Warteschlangen mit Sicherheitsabstand, da erkenne ich das Ende schwer", erklärt Stefanie Freitag. Die 49-jährige Münchnerin ist hochgradig sehbehindert, von Geburt an. Sie sieht nur schemenhaft Umrisse. Im Alltag kennt sie ihre Wege. Ihre größte Hilfe: der weiße Blindenlangstock. Damit versucht Freitag, die Warteschlange zu ertasten. "Ich frag' dann immer noch laut: Ist hier das Ende?"

Abstandhalten ist für Menschen mit Sehbehinderung eine große Herausforderung in der Pandemie: Woher wissen, wie viele Leute heute beim Metzger eintreten dürfen, wenn man das Schild am Eingang nicht lesen kann? Woher wissen, ob man beim Busfahren korrekt einen Sitz frei gelassen hat? Wie viel Abstand man auf dem Gehsteig zum Passanten hat? Fest steht: Wenn es zum Körperkontakt mit anderen kommt, trotz Pandemie, ist das keine Absicht.

Wunsch: Mehr Hilfe von Mitmenschen

"Die Menschen sind ängstlicher geworden, sie sind mehr mit sich beschäftigt und deshalb weniger aufmerksam gegenüber ihren Mitmenschen", beobachtet Stefanie Freitag. Corona würde eben bei allen Spuren hinterlassen. Weil die Münchnerin selbst nicht frühzeitig erkennt, ob Menschen ihren Weg kreuzen, ist sie darauf angewiesen, dass Sehende den Abstand zu ihr einhalten, mit Voraussicht.

Trotz Pandemie wäre es schön, meint sie, wenn gesunde Menschen von sich aus wieder öfter Menschen mit Behinderungen ihre Hilfe anbieten würden. "Einfach direkt ansprechen!" Miteinander reden sei auch viel besser, sagt Freitag, als Menschen mit Blindenstock einfach wortlos am Arm zu packen. Das komme leider auch manchmal vor, und würde sie jedoch mehr erschrecken, statt ihr zu helfen.

Forderung nach barrierefreien Corona-Tests

Ihren Alltag managt die 48-Jährige trotz ihrer starken Sehbehinderung sehr selbständig. Stefanie Freitag arbeitet als Telefonvermittlerin bei der Polizei, geht ins Fitnessstudio, engagiert sich ehrenamtlich beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund. Aus Gesprächen mit Betroffenen weiß sie: Viele Blinde fühlen sich wegen der aktuell notwendigen Corona-Tests stark in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt. Denn das korrekte Durchführen und Ablesen der Ergebnisse geht nur mit Hilfe eines Sehenden.

Barrierefreie Corona-Tests fordert auch Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Die von Geburt an blinde Biathletin und Langläuferin wünscht sich mehr Kreativität bei der Entwicklung und Anwendung der Tests. "Es gibt meines Erachtens auch schon gute digitale Möglichkeiten, die dann zum Beispiel über einen Videochat funktionieren, bis eben eine barrierefreie Testmöglichkeit entwickelt ist."

Persönliche Assistenten fehlen wegen Corona

Nicht nur Blinde, sondern alle Menschen mit Behinderungen seien von der Pandemie besonders betroffen, betont Bayerns Behindertenbeauftragter Holger Kiesel. Auch er kennt die Bedürfnisse von Behinderten sehr gut, denn er sitzt selbst im Rollstuhl - und führt viele Gespräche mit Betroffenen. So seien auch Menschen mit Hörbehinderung momentan in der Kommunikation eingeschränkt, weil sie wegen der Maske nicht mehr die Lippen ihres Gegenübers lesen könnten. Menschen mit Mehrfach-Behinderung müssten häufig auf Therapien und Reha-Maßnahmen verzichten wegen der Kontaktbeschränkungen.

"Besonders fehlen in der Pandemie auch Pflegekräfte, die persönliche Assistenz im Alltag leisten", in Haushalt, Schule, Beruf oder Freizeit, bedauert der Behindertenbeauftragte Kiesel. "Viele sagen: In diesen Zeiten ist mir dieser Job zu riskant. Ich höre auf, oder mache zumindest in der Pandemie nicht weiter." Auch hier verunsichert das Thema Abstandhalten. Dabei bräuchten gerade Menschen mit Behinderungen nun besonders Hilfe.

Schulen: Mehr digitale Barriere-Freiheit

Der 15-jährige Georg ist von Geburt an blind. Er besucht die 9. Klasse Mittelschule am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern (SBZ). Während des Lockdowns habe er gelernt, selbständiger zu arbeiten, sagt Georg. Er interessiert sich sehr für Computer und möchte später vielleicht mal Informatiker werden. "Aber es ist viel schöner, seine Freunde in der Schule zu treffen, als allein daheim zu lernen", sagt Georg. Auch seine Mutter Andrea Windbichler ist sehr froh, dass das SBZ momentan offen ist, trotz Pandemie. "Blinde lernen viel über Fühlen und Tasten, deswegen gibt es viele Lernmaterialien zum Anfassen, und die gibt es oft nur in der Schule."

Für Menschen mit Behinderung wünschen sich sowohl der Behindertenbeauftragte Kiesel als auch VdK-Präsidentin Bentele mehr digitale Barriere-Freiheit, gerade im Homeschooling bzw. Homeoffice. Also zum Beispiel Konferenzsysteme, die so gestaltet sind, dass Menschen mit Hörproblemen eine Untertitelung haben - oder Menüführungen mit digitaler Sprachausgabe für Menschen mit Sehbehinderung.

3. Dezember: Tag der Menschen mit Behinderung

Das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung stärken, das will der internationale Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember. Ausgerufen wurde er von den Vereinten Nationen im Jahr 1992. Im Grundgesetz ist seit 1994 festgelegt, dass "niemand […] wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" darf. Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) können sich Menschen mit Behinderungen auf ein umfangreiches verbindliches Regelwerk berufen. Deutschland hat sich vor mehr als zehn Jahren zur Umsetzung der Konvention verpflichtet.

Als eines der wichtigsten Ziele sehen Sozialverbände das Thema Inklusion im Bildungsbereich an, also das Recht, dass behinderte Schülerinnen und Schüler in Regelklassen unterrichtet werden. Seit Beginn der Pandemie sei das Thema Inklusion aber in den Hintergrund gerückt, sagt der bayerische Behindertenbeauftragte Holger Kiesel. Die Alltagsbewältigung stehe nun im Vordergrund.

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