Nationalsozialistische Staatsanwälte entschieden darüber, ob der Abschiedsbrief eines zum Tode Verurteilten an seine Angehörigen geschickt wurde oder nicht. Falls nicht, wanderte der Brief in die Akten, und die liegen seit 50 Jahren im Staatsarchiv München.
So hat auch der letzte Brief des Landsbergers Lorenz Frühschütz seine hochschwangere Freundin Anna Knott nie erreicht. Er musste mit 31 Jahren auf der Guillotine sterben, weil er sich dem Kriegsdienst entzogen hatte.
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"… und pflanze darauf ein paar Vergissmeinnicht"
"Meine liebste Anni! Muss dir heute die traurige Nachricht schreiben, dass ich um 5 Uhr meinen Tod habe …", schreibt Lorenz Frühschütz am 12. Oktober 1943 aus seiner Todeszelle. "Solltest du in den Friedhof gehen, so halte beim Schorsch seiner Grabstätte ein kleines Plätzchen frei und pflanze darauf ein paar Vergissmeinnicht, das ist mein letzter Wunsch. Sei nochmals tausendmal gegrüßt und geküsst von Deinem heißgeliebten Lorenz."
Anna hat diesen Brief nie bekommen, und auch ihre gemeinsame Tochter Helga Katharina, die wenige Wochen später zur Welt kam, konnte ihn nie lesen. Die Behörden haben ihn wahrscheinlich einbehalten, weil Frühschütz darin auch Kritik an seinem Todesurteil und am NS-Staat übte. So wanderte der Brief in seine Gefangenenakte.
Herzzerreißende Briefe lagern im Archiv
Zahlreiche solcher herzzerreißenden Briefe hat der Historiker Alexander Korb im Staatsarchiv München gelesen. Denn 844 erhaltene Stadelheimer Gefangenenakten lagern dort seit 1975. Niemand dachte je daran, die Briefe abzuschicken und den Angehörigen so wenigstens das letzte Lebewohl ihrer ermordeten Liebsten zukommen zu lassen. "In diesen Akten ist ein kaltherziges Schweigen und Verwalten zu beobachten", sagt Korb. "Die Kinder der Verstorbenen sind ja vielleicht noch am Leben, in jedem Fall aber die Enkel oder Urenkel – und für sie und ihre Erinnerung könnten diese Briefe von großer Bedeutung sein." Zumal die Todesstrafe den Familien der Opfer oft tiefe Wunden zugefügt hat, die noch nach Generationen spürbar sind.
Viele der Briefe sind auf Polnisch oder Tschechisch geschrieben, denn die Hälfte der Hingerichteten waren Ausländer: Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter, die man zum Tode verurteilt hatte, weil sie auf einem Bauernhof eine Gans gestohlen hatten oder eine Liebesbeziehung mit einer deutschen Frau unterhielten. Viele der Stadelheimer Justizopfer waren auch Widerstandskämpfer aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten.
"Tragischer Fall von nie geschehener Aufarbeitung"
Auch die Mitarbeiter des Staatsarchivs München wissen von den Abschiedsbriefen dieser Opfer, doch sie haben sie bisher nur als Dokumente betrachtet, die für die Nachwelt aufbewahrt werden müssen, sagt Archivleiter Julian Holzapfl: "Dass diese Briefe nicht abgeschickt wurden, zeigt, wie menschenunwürdig das NS-Regime mit den Opfern umgegangen ist. Deshalb gehören sie zu den Akten." Aufgabe eines Archivs sei es, solche Dokumente zu bewahren und für Forschung und Angehörige bereitzuhalten – Recherche und Wiedergutmachung gehören nicht zum gesetzlichen Auftrag eines Archivs, sagt Holzapfl.
Die Briefe zu erhalten ist auch im Sinne des Historikers Alexander Korb. Aber er fragt sich, warum nie jemand an die Angehörigen gedacht und ihnen nicht wenigstens Kopien der Briefe zugeschickt hat: "Das ist in meinen Augen eine Fortsetzung des Unrechts. Und ein besonders tragischer Fall einer nie geschehenen Aufarbeitung."
Wer recherchiert die heutigen Adressen?
Doch selbst bei gutem Willen hätten die Mitarbeiter des Staatsarchivs München gar nicht die Zeit, alle 844 Akten nach Abschiedsbriefen durchzusehen, die Nachkommen zu recherchieren und zu kontaktieren, sagt Archivleiter Julian Holzapfl. Er betrachtet das immerhin als eine lohnende Aufgabe und hofft darauf, dass sich Partner melden, die sie übernehmen könnten.
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Problematisches Erbe - Die bayerischen Guillotinen
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