Die Eltern knien am Grab ihrer Tochter die auf der Flucht tödlich verunglückt ist
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Die Eltern knien am Grab ihrer Tochter die auf der Flucht tödlich verunglückt ist

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Wenn Verzweiflung und Flucht auf europäische Asylpolitik treffen

Wenn Verzweiflung und Flucht auf europäische Asylpolitik treffen

Melike Akbas starb auf ihrer Flucht nach Deutschland. Die 15-Jährige hatte sich mit ihrer Familie in einem Güterzug versteckt. Auch so versuchen Flüchtlinge die Binnengrenzkontrollen zu umgehen. Werden die Fluchtrouten immer gefährlicher?

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Die 15-jährige Melike Akbas floh mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus der Türkei. Die Familie gehört der kurdischen Minderheit an. Schlepper schleusten sie über den Balkan nach Italien. Dort versteckten sie sich mit neun anderen Flüchtlingen in einem Güterwaggon. Als sie am 24. Mai 2022 in München-Trudering aus dem Zug klettern wollten, erlitten ein Verwandter der Familie, die 15-Jährige und ihr jüngerer Bruder einen lebensgefährlichen Stromüberschlag aus der Oberleitung.

Die Mutter musste hilflos zuschauen. "Ich habe beim Rausklettern meinem Sohn geholfen und habe dann gesehen, dass seine ganzen Haare verbrannt waren", erinnert sich die 38-Jährige acht Monate später. "Dann habe ich nach meiner Tochter geschaut und gesehen, dass sie auf dem Boden liegt. Sie war verletzt und rief: Mama, hilf mir."

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Doch jede Hilfe kommt zu spät. Ihren damals zwölfjährigen Sohn konnte die Mutter wenig später aus dem Krankenhaus abholen. Die Tochter aber starb nach einigen Tagen im Koma im Juni 2022. "Es war das Schrecklichste, was es gibt, diesen Schmerz kann ich nicht beschreiben", sagt die Mutter.

Sie hält die Augen geschlossen und den Anhänger ihrer Halskette fest umklammert. Es ist eine silberne Schneeflocke, die ihrer Tochter gehörte. "Als ich geflohen bin, dachte ich, dass ich meinen Kindern eine neue Zukunft ermöglichen werde, ich wusste nicht, dass ich hier meine Tochter begraben sollte." Sie macht sich Vorwürfe, doch sie weiß auch, dass sie und ihre Familie keine Wahl hatten.

Schleuser gehen großes Risiko ein

Die meisten Menschen, die die Bundespolizei an den bayerischen Grenzen zu Österreich und Tschechien aufgreift, stammen aus Syrien, Afghanistan oder der Türkei. Dass sich Menschen in einem Güterzug verstecken, um unentdeckt nach Deutschland einzureisen, ist dabei eher selten.

Güterzüge gelten als extrem gefährliches Fluchtmittel. Es sei eine "größere Risiko- bzw. Gewaltbereitschaft" der Schleuser zu beobachten, so die Bundespolizeidirektion München. "Es gibt tatsächlich eine Tendenz, die sehr bemerkenswert und auch beunruhigend ist", sagt Thomas Borowik, Sprecher der Bundespolizeidirektion München, "dass die Schleuser immer mehr Gefahr nicht nur auf sich nehmen, sondern die Geschleusten gefährden."

Die Schleuser versuchten zunehmend, sich der Kontrolle an den Grenzen zu entziehen, sagt Borowik. In den bayerischen Grenzregionen sei es im vergangenen Jahr zu regelrechten Verfolgungsjagden mit der Polizei gekommen.

Ermittlungen wegen Einschleusung mit Todesfolge

Die Bundespolizei schnappte bei den Kontrollen an den bayerischen Grenzen im vergangenen Jahr 1.200 mutmaßliche Schleuser. Auch nach dem Tod von Melike Akbas läuft ein Ermittlungsverfahren – wegen Einschleusung mit Todesfolge. Zum Stand der Ermittlungen will ein Sprecher keine Auskunft geben.

  • Zum Artikel: Grenzkontrollen: Zahl der illegalen Einreisen steigt

Grenzkontrollen als "ultima ratio"

Um irreguläre Migration einzudämmen, hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze zuletzt bis Mai 2023 verlängert. Es sei eine "Maßnahme mit 'ultima ratio'-Charakter", teilte das Bundesinnenministerium auf BR-Anfrage mit. "Nach sorgfältiger Abwägung waren keine milderen Maßnahmen zur Eindämmung des irregulären Migrationsgeschehens an der deutsch-österreichischen Landesgrenze möglich", so ein Sprecher des BMI.

Im vergangenen Jahr stellte die Bundespolizei bundesweit 91.986 unerlaubte Einreisen fest, so viele wie seit sechs Jahren nicht. Allein an den bayerischen Grenzen waren es mehr als 27.000. Das bayerische Innenministerium spricht von einer Steigerung von rund 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Innenministerium ist überzeugt: "Die derzeitigen Grenzkontrollen sorgen für mehr Sicherheit."

Traumatische Erlebnisse an Europas Grenzen

"Refugio München", ein Behandlungszentrum für traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer, stellt unterdessen fest, dass Traumatisierungen auf den europäischen Fluchtrouten zunehmen. Refugio fragt mit Hilfe einer Liste traumatische Erlebnisse ihrer Klienten systematisch ab. "Die verschiedenen Trauma-Arten, die erlebt werden, sind eindrucksvoll gestiegen", sagt Heike Baumann-Conford.

Sie ist Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und arbeitet bei Refugio München. Klienten berichteten von dramatischen Erlebnissen auf der Flucht nach und innerhalb Europas: Vom gewaltsamen Tod eines Kindes an der Außengrenze über brutale Pushbacks an den Binnengrenzen bis hin zu sexuellem Missbrauch.

Kritik an Grenzkontrollen im Schengen-Raum?

Die Münchner Asyl-Anwältin Gisela Seidler sieht die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze kritisch. Sie bereitet im Namen einer Mandantin eine Klage vor. Die Grenzkontrollen gefährdeten die europäische Freizügigkeit und seien rechtswidrig. Denn der EuGH, das höchste europäische Gericht, verurteilte im Frühjahr 2022 dauerhafte Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten. Laut EuGH dürfen sie nur vorübergehend eingesetzt werden, im Falle einer Bedrohung der inneren Sicherheit und höchstens für sechs Monate.

An der bayerisch-österreichischen Grenze werden aber bereits seit über sieben Jahren stationäre Kontrollen durchgeführt. "Für Geflüchtete bedeuteten die Grenzkontrollen größere Gefahren", sagt Seidler. "Sie müssen immer gefährlichere Wege auf sich nehmen."

Staaten an den Außengrenzen überfordert

Auch die Rechtsanwältin Anna Frölich sieht in den Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen ein Problem. Sie vertritt die Familie von Melike Akbas im Asylverfahren. Die Kontrollen führten dazu, dass die Schleuser immer gefährlichere Wege suchten, um die Menschen von den äußeren in die inneren Mitgliedstaaten zu bringen, meint auch sie.

Das Problem sei das Dublin-System. Es besagt, dass Flüchtlinge in dem europäischen Land bleiben müssen, in dem sie zuerst registriert wurden. Weil die Staaten wie Griechenland oder Italien aber überfordert seien, wanderten die Menschen weiter, sagt Frölich. "Und das führt wiederum dazu, dass kurdische oder türkische Staatsangehörige dann solche Wege wie diese Familie auf sich nehmen. Und den Tod sozusagen in Kauf nehmen."

Tote auf europäischen Landrouten

Welchen lebensbedrohlichen Risiken Migranten auf dem Weg nach und innerhalb Europas ausgesetzt sind, zeigt ein Blick in die Daten des Projekts "Missing Migrants" der Internationalen Organisation für Migration, IOM. Das Projekt zählt seit 2014 die Zahl der Toten und Vermissten auf den Fluchtrouten. Von 50.000 dokumentierten Toten weltweit, starben 30.000 auf den Routen nach und innerhalb Europas, die meisten im Mittelmeer.

Aber auch die europäischen Landrouten sind gefährlich: mehr als 1.000 Menschen verloren seit 2014 auf diesen Routen ihr Leben, sei es an der griechisch-türkischen Grenze oder auf der Westbalkanroute. Allein 33 Migranten kamen in den vergangenen acht Jahren an der Grenze zwischen Italien und Frankreich ums Leben. Die Zahlen könnten aber noch höher sein, weil Staaten darüber öffentlich keine Auskunft gäben, so das IOM Projekt "Missing Migrants".

Auch die Eltern von Melika Akbas sahen keinen anderen Ausweg als die Flucht, sagt ihr Vater: "Wir wissen, dass der Weg gefährlich ist. Aber wir hatten keine andere Wahl. Wir müssen diesen gefährlichen Weg gehen, ob wir überleben oder nicht."

Wir haben uns entschieden die Kommentarfunktion unter diesem Artikel ausnahmsweise nicht zu öffnen. Die Familie – die in diesem Artikel vorkommt - hat Traumatisches erlebt. Wir als Redaktion haben eine Verantwortung, sie vor direkten Angriffen zu schützen. In unserer Netiquette weisen wir darauf hin, dass wir den Menschen, die uns Einblick in ihr Tun oder Denken geben dankbar sind.

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