"Johannes, Stopp! Da kommt wieder eine Straße!", ruft Sabrina Ziegelmeier ihrem Sohn auf dem Bobbycar hinterher. Der Dreijährige reagiert nicht sofort, er hört schlecht. Der Grund: Ein Paukenerguss im Ohr. Dazu ist Johannes ständig erkältet. Seit drei Monaten war er nicht mehr im Kindergarten, sagt Sabrina Ziegelmeier. Er spiele nicht mehr mit, sei teilnahmslos, habe nichts mehr essen können. Mit diesen Schilderungen habe sich die Erzieherin bei ihr gemeldet. Die Lösung wäre relativ einfach: Die Rachenmandel verkleinern, Polypen raus, ein Paukenröhrchen ins Ohr setzen. Eigentlich eine Standard-OP bei betroffenen Kindern. Das Problem: "Man wartet bis zu einem Jahr oder noch länger auf einen Termin", sagt Sabrina Ziegelmeier.
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85 Prozent der HNO-Ärzte haben Kinder-OPs ausgesetzt
Der Grund für den Stau bei den HNO-OPs bei Kindern: Eine Protestaktion der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte seit Jahresbeginn. Laut dem zuständigen Berufsverband beteiligen sich 85 Prozent der operierenden Ärzte des Verbandes an der Aktion. Dabei geht es um die niedergelassenen HNO-Ärzte, die als Belegärzte ambulant in Kliniken operieren. Sie bieten OPs für Kinder nicht mehr an, nachdem am Jahresanfang die Honorare gesenkt wurden. Für Mandel-OPs bekommen Ärzte statt 111 Euro jetzt noch 107 Euro. Wie der Verband BR24 mitteilt, überstiegen schon die Kosten für die OP-Miete, das OP-Personal und das Bereitstellen der Instrumente diesen Honorarsatz. Unterm Strich bleibe kein Geld für den Arzt übrig.
Kliniken bis nach Salzburg abtelefoniert
Sabrina Ziegelmeier aus dem nordschwäbischen Asbach-Bäumenheim berichtet, dass sie alles versucht habe. Persönlich sei sie mit Johannes in den Kliniken in Augsburg und Ulm vorstellig geworden. Bis nach Salzburg habe sie telefoniert: "Die haben mir gesagt, sie sind nur noch damit beschäftigt, deutsche Kinder zu operieren und sie kommen gar nicht mehr dazu, dass sie die österreichischen drannehmen. Die Wartelisten sind voll." Sogar an die Gesundheitsministerien in Berlin und Bayern habe sie geschrieben, in der Hoffnung, dass es wieder mehr OP-Termine gibt.
Anfragen aus 100 Kilometern Umkreis
OP-Termine gibt es zwar noch, aber nur noch sehr selten. HNO-Arzt Constantin Weber aus Nördlingen operiert noch Kinder. Aber das liegt an einer besonderen Konstellation: Der niedergelassene Arzt operiert nicht als Belegarzt am Nördlinger Krankenhaus, sondern ist dort zusätzlich angestellt. Deshalb hat er keine Kosten für OP-Miete oder OP-Personal. "Wir haben in meiner Praxis Anfragen aus Baden-Württemberg, Franken und dem Umland von Augsburg. Da sprechen wir über Wegstrecken von 80 bis 100 Kilometer", sagt Weber. Allen Kindern könne er nicht helfen. Schon jetzt müssten Kinder bis Februar nächsten Jahres auf eine OP in Nördlingen warten.
Sprachentwicklung stockt, Aussprache wird undeutlich
Die Folgen für Kinder mit ständigen Mittelohrentzündungen und Atemwegsinfektionen: "Die Sprachentwicklung stagniert, die Aussprache wird undeutlich. Zusätzlich kann es sein, dass die Kinder Schlafstörungen bekommen", sagt HNO-Arzt Constantin Weber. Trotzdem steht er hinter der Protestaktion der Ärzte. Denn es könne nicht sein, dass die Ärzte und der ganze Klinikbetrieb unwirtschaftlich arbeiten müssten. Das sei schon seit fünf bis zehn Jahren ein Dauerproblem.
HNO-OPs bei Kindern in Bayern um ein Drittel zurückgegangen
Der Berufsverband der HNO-Ärzte beklagt, dass die Bezahlung ambulanter OPs chronisch unterfinanziert sei. Deshalb sei schon vor der Honorarabsenkung zwischen 2019 und 2022 die Zahl der HNO-Eingriffe bei Kindern in Bayern um 31,5 Prozent zurückgegangen.
Die an den Kliniken angestellten HNO-Ärzte betrifft der Honorarstreit nicht. Sie führen die Operationen weiterhin durch. Allerdings sind die Kapazitäten dort begrenzt.
Kritik: Ärzte stellen Geld über Gesundheit der Kinder
Kritik an der Protestaktion gibt es von den Krankenkassen, vertreten durch den GKV-Spitzenverband. Der verweist darauf, dass man sich mit der Kassenärztlichen Vereinigung – also der Vertretung der Ärzte – auf die Honorarabsenkung geeinigt habe. Und wirft den Ärzten in einer Mitteilung vor: "Wer wegen vier Euro mehr oder weniger Honorar für eine Operation offen dazu auffordert, kranke Kinder nicht zu behandeln, stellt offenkundig Geld über Gesundheit." Außerdem erklärt der GKV-Spitzenverband auf BR-Anfrage, dass HNO-Praxisinhaber durchschnittlich einen Reinertrag von 185.000 Euro pro Jahr hätten und komplexere Operationen mit der Reform zu Jahresbeginn nun besser bezahlt würden.
Mehr Geld gibt es nur in Bremen
Ein Ende des Streits und eine Wiederaufnahme der Operationen bei Kindern ist bisher nicht in Sicht. Lediglich im Bundesland Bremen hat eine Krankenkasse – die AOK – den Ärzten bis Jahresende befristet ein höheres Honorar zugesagt. Es gibt 50 Prozent mehr.
Ministerium besorgt Mutter OP-Termin
Sabrina Ziegelmeier aus Asbach-Bäumenheim hat am Ende mit ihren Mails an die Ministerien Erfolg gehabt. Das bayerische Gesundheitsministerium habe ihr kurzfristig einen OP-Termin in München für den dreijährigen Johannes besorgt, sagt die Mutter. Dafür sei sie sehr dankbar, aber eine Lösung für alle sei das ja auch nicht.
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