Ein historisches Foto zeigt das Treffen zwischen dem Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, und Adolf Hitler in Berlin.
Bildrechte: picture alliance / CPA Media Co. Ltd | -
Audiobeitrag

Am 28. November 1941 trafen sich der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini und Adolf Hitler in Berlin.

Audiobeitrag
>

#Faktenfuchs: Mufti von Jerusalem war nicht Hitlers Ideengeber

#Faktenfuchs: Mufti von Jerusalem war nicht Hitlers Ideengeber

Ein altes Video des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu kursiert im Internet. Darin behauptet er, der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, habe Hitler auf die Idee des Holocaust gebracht. Doch das ist falsch. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Darum geht's:

  • 2015 behauptete der israelische Ministerpräsident Netanjahu in einer Rede, der damalige Mufti von Jerusalem, ein islamischer Rechtsgelehrter, habe Hitler auf die Idee des Holocaust gebracht. Das stimmt nicht.
  • Historische Fakten widerlegen diese Behauptung - unter anderem war der Bau von ersten Vernichtungslagern zum Zeitpunkt des Gesprächs schon in Planung.
  • Unabhängig davon war der Mufti Amin al-Husseini ein überzeugter Judenhasser, der mit den Nazis kollaborierte und den NS-Antisemitismus in die arabische Welt transportierte.

Während des Holocaust ermordeten die Nationalsozialisten rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Europa. User in den Sozialen Netzwerken behaupten, der damalige Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, habe am Holocaust mitgewirkt oder Adolf Hitler sogar dazu inspiriert. Das ist falsch, dafür gibt es zahlreiche Quellen und Beweise und darin sind sich Historiker einig.

Bildrechte: X / Montage: BR
Bildbeitrag

Zwei Posts auf X (ehemals Twitter) mit der Falschbehauptung, der Mufti von Jerusalem hätte Hitler zum Holocaust "inspiriert" oder mitgearbeitet.

Al-Husseini war ein islamischer palästinensischer Nationalist, der Judenhass im Nahen Osten propagierte, die Nazis bewunderte und mit ihnen kollaborierte. Die Briten ernannten ihn 1921 für das britische Mandatsgebiet Palästina zum "Großmufti von Jerusalem" und zum Präsidenten des Obersten Muslimischen Rates, der höchsten Behörde für religiöse Angelegenheiten der muslimischen Bevölkerung. Diese beiden Ämter machten ihn zu einem der mächtigsten religiösen Männer in der palästinensisch-muslimischen Gesellschaft dieser Zeit.

Al-Husseini stand im Mittelpunkt des Arabischen Aufstands von 1936-39 und musste daraufhin aus Palästina fliehen, lebte anschließend im Exil im Libanon und im Irak. Nach einem gescheiterten Militärputsch 1941 im Irak gegen die britische Besatzung kam er nach Deutschland und traf am 28. November dieses Jahres den Diktator des Deutschen Reiches, Adolf Hitler. Al-Husseinis Ziel war ein panarabischer Staat auf dem Gebiet des heutigen Syrien, Libanon, Jordanien und Israel - alle Gebiete standen damals unter britischer oder französischer Kolonialherrschaft. Von den Nationalsozialisten erhoffte er sich eine öffentliche Unterstützungserklärung.

Über dieses Treffen sprach auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Rede im Jahr 2015. Ein Video davon verbreitete sich nun erneut mit großer Reichweite. Netanjahu griff damals eine ähnliche Falschbehauptung auf wie in den Social-Media-Posts: Er sagte, Hitler habe die Juden damals nicht vernichten, sondern "nur ausweisen" wollen. Erst der Mufti von Jerusalem habe ihn auf die Idee gebracht, Jüdinnen und Juden zu ermorden. Dieselbe Falschbehauptung hatte Netanjahu bereits 2012 verbreitet.

Keine Belege für eine solche Äußerung des Muftis von Jerusalem

Es gibt keine Belege für das angebliche Mufti-Zitat, das Netanjahu in seiner Rede wiedergibt - im Protokoll des Treffens ist keine solche Äußerung vermerkt. Netanjahu entschuldigte sich später für seine Aussage.

Martin Cüppers, Historiker und wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, hat sich auf Holocaust-Forschung spezialisiert. Er sagt im Interview mit dem #Faktenfuchs: "Diese Äußerungen Netanjahus sind historisch unhaltbar."

Es war Hitler, der in diesem Gespräch Andeutungen zu einer "Lösung des Judenproblems" machte und von einer "vollständigen Zerstörung" und "Vernichtung" des Judentums sprach, wie man im Protokoll des Gesprächs nachlesen kann.

Auch der Historiker Markus Roth vom Fritz-Bauer-Institut an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main sagt im Interview, man überschätze die Rolle des Muftis von Jerusalem, "wenn man annehmen würde, er habe Hitler in irgendeiner Art und Weise dazu bewegt, gegen die Juden vorzugehen." Roth sagt: "Das war überhaupt nicht notwendig." Er verweist auf die vielen Jahre antijüdischer Politik in Deutschland schon vor besagtem Treffen.

Konzept der Zwangsvertreibung von Juden im November 1941 bereits verworfen

Außerdem war laut Frank Bajohr, Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München, das Konzept der Zwangsvertreibung und Zwangsauswanderung von Juden zum Zeitpunkt des Treffens schon gescheitert. "Heinrich Himmler (Reichsführer SS; Anm.d.Red.) hatte ungefähr einen Monat zuvor, am 23. Oktober 1941, die Auswanderung der Juden aus dem deutschen Machtbereich verboten. Das ist ein deutlicher Hinweis auf den Umschlag der antijüdischen Politik in die Mordpolitik", sagt Bajohr im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.

Tatsächlich erschossen deutsche Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD auf Befehl der NS-Staatsspitze seit Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 bereits massenhaft Juden. Cüppers von der Forschungsstelle Ludwigsburg sagt: "Zwei Monate vor dem Treffen, im September 1941, war beispielsweise die Ermordung von Kiewer Jüdinnen und Juden mit 33.000 Opfern schon geschehen."

Im Gespräch mit dem #Faktenfuchs sagt Bajohr vom Institut für Zeitgeschichte ergänzend: "Zwei Millionen Juden wurden ja nicht in Gaskammern ermordet, sondern von Mordschützen. Polizeibataillone, Einsatzgruppen und SS-Angehörige erschossen viele Hunderttausende bis zum November 1941." Gleichzeitig habe die Suche nach anderen "Tötungslösungen" begonnen. "Es bedurfte keiner Intervention von außen, um diesen Gedanken des Massenmordes der NS-Führung nahezubringen", so Bajohr.

Erste Vernichtungslager waren im Herbst 1941 bereits in Planung

Historiker gehen davon aus, dass in der zweiten Jahreshälfte 1941 die Entscheidung für die europaweite Umsetzung des Holocausts fiel. Im November 1941 - als Hitler mit dem Mufti zusammenkam - waren laut Markus Roth vom Fritz-Bauer-Institut einige Vernichtungslager bereits in Planung oder sogar im Bau.

Im November begann der Bau der Vernichtungslager Bełżec, Sobibor und Treblinka im östlichen Polen. In diesen drei Vernichtungslagern wurden im Zuge der "Aktion Reinhardt", Juden und Roma des Generalgouvernements im deutsch besetzten Polen systematisch ermordet.

Außerdem habe die Errichtung des Vernichtungslagers Chelmno (Kulmhof) in der Nähe von Lodz begonnen, sagt Roth: "Anfang Dezember, wenige Tage nach dem Treffen, haben dort die ersten Morde stattgefunden."

Verzerrung des Holocaust

Laut Frank Bajohr vom Institut für Zeitgeschichte gibt es manchmal eine "überschießende Neigung" auf israelischer Seite, die Verantwortung der radikalen Islamisten - hier in besonderer Weise die Rolle des Muftis - am Holocaust zu betonen. Das sei nicht ganz falsch, weil es einen ideologischen Gleichklang vor allen Dingen im Bereich des Antisemitismus zwischen den Nationalsozialisten und al-Husseini gab, und der Mufti bis heute als Freiheitskämpfer verehrt werde.

"Nur darf das nicht dazu führen, was man auf Englisch ‘Holocaust Distortion’ [wörtliche Übersetzung: Holocaust-Verzerrung] nennt, dass auf einmal Hitler gar nicht als der zentrale Initiator des Ganzen erscheint, sondern ihm sozusagen die Idee von außen gewissermaßen souffliert wird." Frank Bajohr, Institut für Zeitgeschichte

Auch für die Historikerin Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin ist die Äußerung Netanjahus eindeutig Holocaust-Verzerrung. Sie sagt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs: "Das ist eine Schuldzuschiebung an die Muslime oder die Palästinenser, die Aufmerksamkeit erzielen soll." Verschiebungen der Täterschaft kommen laut Wetzel immer wieder auf und seien gerade durch die sozialen Medien in verschiedenen Zusammenhängen zu finden. "Wenn man über eine dramatische Situation sprechen will, ist der Referenzrahmen sehr schnell der Holocaust", sagt Wetzel.

Amin al-Husseini transportierte den NS-Antisemitismus in die arabische Welt

Der Mufti war ein überzeugter Antisemit und eine bedeutende Figur im Nahen Osten. Für den Holocaust in Europa spielte er aber keine Rolle. Er wurde dennoch zu einer wichtigen Propaganda-Stimme für die Nazis. Über den Propagandasender "Radio Zeesen" für den arabischen Raum sollte er potenzielle Kollaborateure in Nordafrika für die Nationalsozialisten ansprechen.

Sowohl Frank Bajohr als auch Martin Cüppers schreiben ihm auch wegen dieser Verbreitung von NS-Propaganda eine Bedeutung bei der Verbreitung eines modernen Antisemitismus im arabischen Raum zu. Cüppers sagt: "Das Entscheidende ist, dass al-Husseini ideologische Versatzstücke eines modernen Antisemitismus aus Europa importiert und dann mit eigenem, eher muslimisch konnotierten Judenhass ergänzt." Diese Mischung transportiert er dann in die arabische Welt.

💡 Was ist moderner Antisemitismus?

Den modernen Antisemitismus zeichnet laut dem Historiker Martin Cüppers von der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart aus, dass alle Unsicherheiten der modernen Gesellschaft im 19. Jahrhundert in Europa absurderweise auf Jüdinnen und Juden projiziert wurden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm der moderne Antisemitismus die Form einer verschwörungsideologischen Welterklärung an, heißt es in einer Definition der Online-Plattform Anders Denken” für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. “Jüdinnen und Juden wurden als eine einheitliche, fremde und bösartige Gruppe dargestellt, die darauf aus sei, heimlich die Herrschaft über die übrigen Menschen zu erlangen.”

  • Wann spricht man von Antisemitismus, wann von Antizionismus und wann ist es Israelkritik? Einen Überblick über die Begriffe finden Sie hier.

Fazit

Die Behauptung, der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, habe Adolf Hitler auf die Idee des Holocaust gebracht, ist falsch. Eine solche Äußerung des Mufti ist nicht im Protokoll des Gesprächs mit Hitler dokumentiert. Außerdem ermordeten die Nationalsozialisten zum Zeitpunkt des Treffens am 28. November 1941 bereits massenhaft Jüdinnen und Juden und erste Vernichtungslager waren in Planung bzw. wurden bereits gebaut.

Versuche, die alleinige Schuld am Holocaust auf diejenigen zu schieben, die mit den Nazis kollaborierten, bezeichnen Expertinnen und Experten als Verfälschung und Verharmlosung des Holocaust.

Nichtsdestotrotz war der Mufti von Jerusalem ein überzeugter Antisemit, der Versatzstücke des NS-Antisemitismus mit muslimisch geprägtem Judenhass ergänzte und in die arabische Welt transportierte - auch über Propaganda-Radiosendungen der Nazis.

Disclaimer (08.12.2023, 09:26): Wir haben im Teaser einen Fehler korrigiert. Dort stand erst fälschlicherweise, dass Netanjahu Israels Präsident sei. Er ist aber israelischer Ministerpräsident.

Disclaimer (26.04.2024, 12:35): Wir haben im ersten Satz einen Fehler korrigiert. Vor der Korrektur stand dort, die Nationalsozialisten hätten im Zweiten Weltkrieg rund sechs Millionen Menschen ermordet, vor allem Jüdinnen und Juden. Tatsächlich haben die Nationalsozialisten im Holocaust rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Wir haben den Satz entsprechend geändert. Durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure kamen im Zweiten Weltkrieg noch viele weitere Menschen ums Leben . Die derzeit genausten Schätzungen finden Sie hier. Wir bitten um Entschuldigung dafür, dass uns dieser Fehler unterlaufen ist.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!