Die Blaumeise, die im Sommer im Nistkasten gebrütet hat, ist wahrscheinlich nicht identisch mit der Blaumeise, die im Winter am Knödel pickt. Trotzdem: Immer mehr Vögel verzichten auf die große Reise.
Es ist im Herbst und im Frühjahr ein Kommen und Gehen: Nach dem Sommer machen sich Schwalben, Wendehals, Wiedehopf, Ortolan, Kuckuck, Singdrossel, Rotschwänze und zum Beispiel Turteltauben auf in Richtung Süden. Gleichzeitig kommen aus dem Norden Ringeltauben, Eichelhäher, Rotkehlchen oder Blaumeisen, um nur einige zu nennen, zum Überwintern zu uns. Sie ziehen im Frühjahr wieder davon, während die Brutvögel zurückkehren. Darüber hinaus fliegen etliche Vogelarten zwei Mal im Jahr über Mitteleuropa hinweg. Deutschland ist also eine Drehscheibe des weltweiten Vogelzugs. Doch in den letzten Jahrzehnten wird immer deutlicher: Nicht Wegfliegen ist auch eine Alternative.
Amsel, Drossel, Fink und Star bleiben immer öfter gleich da
Von den etwa 250 Brutvogelarten Deutschlands ziehen rund zwei Drittel im Herbst in Richtung Süden. Diese Arten gelten gemeinhin als Zugvögel. Doch die herkömmlichen Einteilungen passen in vielen Fällen nicht mehr zur Wirklichkeit. Die Grenzen verwischen, der Trend geht zum "Teilzieher". Das heißt: Bei immer mehr Arten verreist nur ein Teil der Population, ein Teil bleibt hier.
Von wegen "Alle Vögel sind schon da" – Amsel, Drossel, Fink und Star waren vermutlich vor knapp 200 Jahren, als das Lied entstanden ist, noch reine Zugvögel. Heute müsste es heißen: "Viele Vögel sind noch da". Bleiben doch so gut wie alle Amseln und viele Drosseln, Buchfinken und Stare hier. Viele Amseln ziehen im Winter lediglich vom Wald in die Stadt. Auch Weißstörche, Rotkehlchen und Kiebitze gehören inzwischen zu den Teilziehern. Kraniche, die eigentlich über Deutschland hinweg nach Frankreich, Spanien oder Nordwest-Afrika fliegen, landeten in den letzten Wintern zu Hunderten in der Oberlausitz, um dort bis zum Frühjahr zu bleiben.
Eine Wette aufs Unbekannte
Obwohl der Impuls, nach der Brutzeit in den Süden zu fliegen, angeboren, also genetisch festgelegt ist, steigt der Anteil der Vögel, die hier überwintern. Es ist eine Wette aufs Wetter und auf andere Unbekannte: Gibt es einen milden Winter, sind die Nichtzieher im Vorteil: Dann haben sich zum einen die kraftraubende und riskante Reise gespart, zum anderen können sie im Frühjahr die besten Nistplätze besiedeln, während Ihre Artgenossen noch auf der Anreise sind.
Andererseits: Bleiben zu viele Vögel hier, wird das Futter unter Umständen knapp. Denn im Winter finden sich viel weniger Insekten und andere Kleintiere als im Sommer, auch Beeren und Sämereien können rar werden. Wird der Winter kalt und schneereich, verschärft sich die Futtersituation, die Vögel brauchen zudem mehr Energie, um ihre Körpertemperatur zu halten. Dann wäre es vielleicht doch besser gewesen, ins Warme zu fliegen.
Spanien statt Südafrika: Die Reiseziele ändern sich
Weißstörche zählen wie zum Beispiel Kuckuck, Nachtigall, Gartenrotschwanz, Rauch- und Mehlschwalbe zu den Langstreckenziehern. Ihre Winterquartiere sind südlich der Sahara, mehr als 4.000 km von den Brutgebieten entfernt. Sie müssen die Alpen, das Mittelmeer und die Sahara überqueren. Langstreckenzieher sind meist Insekten- und Kleintierfresser, sie verweilen die kürzeste Zeit in ihren Brutgebieten, kommen oft erst im April und ziehen im August schon wieder nach Süden.
Weißstörche machen wie einige andere große Vogelarten einen Bogen ums Mittelmeer, weil es dort keine Thermik gibt. Die sogenannten "Oststörche" fliegen über den Bosporus nach Südafrika, die "Weststörche" nehmen eine Route über Gibraltar. Doch statt nach Südafrika fliegen inzwischen viele nur noch bis nach Spanien. Dort finden sie unter anderem auf offenen Müllkippen Nahrung. Einzelne Weißstorch-Exemplare verzichten ganz auf die Reise, im letzten Winter sind nach Angaben des Landesbundes für Vogelschutz 300 Störche gleich in Bayern geblieben.
Es gibt auch ganz neue Winterquartiere – England zum Beispiel
Zu den sogenannten obligaten Zugvögeln rechnen Ornithologen Rauchschwalben, Neuntöter, Nachtigall, Feldschwirl und zum Beispiel das Braunkehlchen. Bei ihnen fliegt die ganze Population im Winter nach Süden. Noch.
Mittel- und Kurzstreckenzieher wie zum Beispiel Buchfink, Rotkehlchen, Star, Feldlerche, Kiebitz, Großer Brachvogel und Hausrotschwanz fliegen im Winter in den Mittelmeerraum, nach Westeuropa oder in den Nahen Osten, der Große Brachvogel und der Kiebitz zum Teil bis nach Ostasien. Doch auch hier gibt es Verschiebungen: Manche Arten fliegen nun nach Großbritannien statt wie bisher nach Spanien oder Asien. Und manche Vögel bleiben auch einfach hier. Es wandern aber andererseits Buchfinken, Rotkehlchen, Stare, Baumeisen und Eichelhäher aus dem Norden ein, um in Deutschland zu überwintern. So ist die Blaumeise, die im Garten gebrütet hat, zum Überwintern vielleicht über die Alpen verschwunden. Die Blaumeise dagegen, die im Winter ans Futterhäuschen kommt, lebt im Sommer möglicherweise in Nordeuropa.
Reiselust ist angeboren
Ob, wohin und welche Route ein Zugvogel fliegt ist grundsätzlich genetisch festgelegt. Das haben Versuche mit Vögeln gezeigt, die im Brutkasten ausgebrütet und später ohne Artgenossen aufgezogen wurden, von denen sie Verhaltensweisen hätten abschauen können. Auch diese Zugvögel hat im Herbst und Frühjahr die sogenannte "Zugunruhe" erfasst, ein hormonell gesteuerter Impuls. Sie sind aufgebrochen zu den Zielen, an denen ihre Eltern auch überwintern. Doch Genetik ist nicht alles. Die Vögel orientieren sich an Landmarken wie Küsten, Gebirgen, dem Sternenhimmel, elektromagnetischer Strahlung und anderen Größen. Die meisten Zugvögel fliegen bei Nacht und nicht in Formationen, sondern einzeln, oft in Rufkontakt zu Artgenossen. Sie treffen sich dann an den artspezifischen Rastplätzen, die Wasser, Nahrung und Sicherheit bieten.
Zugvögel leben gefährlich: Jede zweite Schwalbe bleibt auf der Strecke
Die Zahl der Vögel, die im Herbst davonfliegen, ist viel größer als die Zahl der Vögel, die im Frühjahr zurückkommen. Bei den Schwalben kommt nur jede zweite zurück, schätzen Ornithologen. Kein Wunder: Die lange Reise ist riskant. Wetterstürze waren schon immer eine Gefahr, fast alle anderen Bedrohungen sind menschengemacht: Untersuchungen der Vogelschutzorganisation Bird Life zufolge werden in den Mittelmeer-Anrainerstaaten jährlich 25 Millionen Vögel illegal erbeutet, darunter allein drei Millionen Buchfinken. Ein anderes Beispiel: Mit der Zerstörung der Mangrovenwälder für die Garnelenzucht gehen Winterquartiere verloren. Lichtverschmutzung und Elektrosmog tun ein übriges; sie stören den Orientierungssinn und führen die Zugvögel unter Umständen auf Abwege.
Verschärfte Reisebedingungen durch Klimawandel und Artensterben
Der Klimawandel führt dazu, dass immer mehr Vögel im Winter daheimbleiben. Die Winter sind nicht mehr so kalt und schneereich wie früher. Das erleichtert etlichen Vögeln das Leben. Andererseits sorgt die Erderwärmung auch dafür, dass Extremwetterereignisse zunehmen, Hagel beispielsweise ist für Kleinvögel eine tödliche Gefahr. Außerdem trocknen vermehrt Wasserstellen aus, es wird auch mehr Wasser für die Bewässerung der Felder verbraucht. Die Folge: Die Zugvögel finden nicht mehr genug Wasser zum Trinken und verdursten unter Umständen.
Futtermangel wird immer dramatischer
Das weltweit grassierende Artensterben verschärft die Versorgungslage für alle Insektenfresser in den Sommer- und Winterquartieren. Da überrascht es nicht, dass der Artenrückgang in der Vogelwelt bei den Insektenfressern, Zugvögeln und Offenlandbewohnern besonders dramatisch ist. An die 90 Prozent stehen auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten. Der Mensch verringert aber auch das Angebot für die Körnerfresser. Beeren, Früchte und Sämereien werden knapp, weil viele Hecken und andere Gehölze sowie Wildkräuter aus den Fluren und Siedlungsräumen verschwunden sind. Die Nistplätze und Lebensräume werden ebenfalls weniger. Es wird künftig also auch für viele Stand- oder Jahresvögel wie Specht, Spatz, Stieglitz, Grünfink, Kleiber, oder Kohlmeise eng werden.
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