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"Das späte Leben": Bernhard Schlinks neuer Roman

"Das späte Leben": Bernhard Schlinks neuer Roman

Seit seinem in über 50 Sprachen übersetzten und verfilmten Roman "Der Vorleser" ist der Jurist Bernhard Schlink internationaler Bestseller-Autor. Nun erscheint sein neuer Roman: "Das späte Leben" – eine Reflexion über die Liebe und die Endlichkeit.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Hager und hochgewachsen tritt er einem entgegen, der 79-jährige Bernhard Schlink. In München hat er gerade erst den Max-Friedlaender-Preis des Bayerischen Anwaltverbandes verliehen bekommen. Sein neues Buch erzählt von einem 76 Jahre alten angesehenen Berliner Rechtswissenschaftler, der feststellt, das Schreiben sei für ihn immer "eine Flucht vor dem Leben, eine Ablenkung vom Leben" gewesen. Gilt das auch für seinen Schöpfer? "Das kann ich auch für mich sagen", sagt Bernhard Schlink, "und das gilt sowohl für das wissenschaftliche als auch das literarische Schreiben. Ich habe beides immer gerne gemacht. Natürlich schreibt man ein Lehrbuch für die Studenten und eine wissenschaftliche Abhandlung für die scientific community, aber letzten Endes habe ich für mich geschrieben."

Stark autobiographisch geprägter Roman

Womit klar ist: Bernhard Schlink hat mit "Das späte Leben" ein in Teilen autobiographisch geprägtes Buch geschrieben. Seine Hauptfigur Martin Brehm, der sein Leben lang Professor war, dessen "Beruf das Recht ist", erhält gleich auf den ersten Seiten von seinem Arzt eine tödliche Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es bleiben ihm nur noch wenige Monate. Der Roman könnte auch "Brehms Ableben" heißen und gerät zu einer luziden Selbstbefragung des eigenen nicht immer einfachen Charakters. Martin Brehm realisiert erst langsam, dass er sterben wird. Diese Langsamkeit in der Reaktion ist für andere irritierend, sie führe zu Missverständnissen, sei aber auch sein Wesensmerkmal, gibt Bernhard Schlink im Gespräch zu und zitiert die entsprechende Passage aus seinem Roman: "Manchmal half ihm seine Langsamkeit; er reagierte auf Überraschungen, Provokationen, Krisen nicht gefühlsmäßig und wurde für kaltblütig gehalten, obwohl er seine Gefühle nicht kontrollierte, sondern noch keine hatte, weil sie erst später kamen. Oft kränkte seine Langsamkeit andere, seine verzögerte Freude über ein Geschenk, eine liebende Annäherung, einen innigen Moment. Er hatte auch schon den Verdacht gehabt, etwas stimme mit ihm nicht, er habe keine Gefühle, er wisse nur, dass es sich gehört, in bestimmten Situationen Gefühle zu haben, und stelle nach der entsprechenden Situation das entsprechende Gefühl her – für sich und die anderen."

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Bild auf dem Buch "Das späte Leben"

"Die Angst, anderen nicht gerecht zu werden"

Warum nicht zugeben, dass sich der Rezensent bei solchen Zeilen ertappt fühlt? Martin Brehm ist so wie Bernhard Schlink selbst in einem frommen, strenggläubigen Elternhaus ausgewachsen. In der protestantischen Erziehung gründet seine "Angst, den anderen nicht gerecht zu werden". Schlink, Sohn eines Theologieprofessors, erzählt im Gespräch, dass auch seine Kindheit geprägt war von Nachtgebeten und Bibellektüre: "Mein Vater hatte einen großen Sinn für Rituale. Der Tag begann mit den Losungen der Evangelischen Brüdergemeinde, vor und nach jedem Essen wurde gebetet, am Abend wurde viele Jahre lang am Tisch die Bibel gelesen, reihum jeder einen Vers, und der Sonntag wurde mit einem Bach-Choral begonnen." Martin, der durchaus religiös musikalisch ist und die Bedeutung der Religionen für alle möglichen Hervorbringungen der Kunst – der Poesie und Malerei etwa – sehr schätzt, hadert mit seiner Kirche, deren Mitglied er nach wie vor ist. Er mag nicht, dass im Gottesdienst nicht mehr über das gepredigt wird, "was höher ist als unsere Vernunft, sondern über Tagesaktualitäten und -banalitäten", er mag auch "die Autorität nicht, die sich die Kirche bei Verlautbarungen zu Gesellschaft und Politik anmaßte, obwohl sie nur zu sagen hatte, was alle sagte". Liest sich fast so, als wär’s auch Schlinks Monitum, was der Autor bejaht: "Ich gehe eigentlich gern in die Kirche, ich mag den Raum und die Lieder, die gesungen werden, aber die meisten Predigten finde ich wirklich so unsäglich, dass ich – wenn ich dann doch mal wieder hingehe – gleich wieder für die nächsten Wochen abgeschreckt bin."

Was hinterlassen Väter ihren Söhnen?

Martin Brehm ist verheiratet mit einer weitaus jüngeren Frau, der 43-jährigen Malerin Ulla. Ihn treibt die Sorge um, was er ihrem gemeinsamen Kind, dem erst sechsjährigen Sohn David, mitgeben soll. Er liest ihm Märchen vor – "Die Bremer Stadtmusikanten", "Dornröschen", "Rumpelstilzchen" - und schreibt ihm einen langen Brief zum bevorstehenden Abschied. "Das späte Leben" kreist um jenes Thema, das Iwan Turgenjew in seinem Klassiker "Väter und Söhne" verewigt hat. Die Väter von Martin und Ulla, deren im Dunkeln liegende Vatergeschichte auch eine größere Rolle spielt, sind abwesende Väter. Martin selbst will bis zuletzt ein sehr präsenter Vater sein. Ihn habe die Frage interessiert, ob Väter überhaupt etwas hinterlassen können, sagt Bernhard Schlink im Gespräch. Er selbst ist Vater eines längst erwachsenen Sohnes, der Zahnarzt ist und selbst Töchter hat. "Meine Frau und ich haben uns scheiden lassen, als unser Sohn klein war, drei Jahre alt", so Schlink im Interview mit dem BR: "Er ist bei seiner Mutter aufgewachsen, aber immer wieder auch bei mir gewesen. Mit sechzehn ist er dann zu mir gezogen; er war im Internat und wollte dort nicht bleiben. Zunächst dachte ich damals: Wie schaffe ich das nur? Im Rückblick kann ich sagen: Was hätte ich versäumt! Das war eine zwar nicht immer leichte, aber für mich glückliche und bereichernde Zeit zusammen."

"Erwachsene trauen der Liebe nie wirklich"

Bernhard Schlinks "Das späte Leben" ist eine große Reflexion über die Liebe, derer man sich nie sicher sein kann. "Erwachsene trauen der Liebe nie wirklich", schreibt Schlink. Dieses Misstrauen erweist sich als nur allzu begründet in Martins Fall, denn seine Frau Ulla, die eine "sachliche, nüchterne" Art hat, geht fremd mit einer Zufallsbekanntschaft. Irgendwann bekommt Martin diese Affäre spitz. Eifersüchtig wird er deshalb aber nicht. Er reagiert auf dieses Verhältnis seiner Frau seinerseits wieder einmal nahezu emotionslos. Für seinen Erfinder Bernhard Schlink ein nachvollziehbares Verhalten: "Ulla liebt ihren Mann ja weiter, bis er sich ins Hospiz verabschiedet. Er ist klug genug, sich auf den letzten Metern nicht noch in die Eifersucht zu verrennen." "Das späte Leben" ist naturgemäß zuvörderst ein Buch über den unerbittlich nahenden Tod. Man muss dabei an das berühmte Diktum des Philosophen Ludwig Wittgenstein denken: "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht." Schlinks Romanfigur hadert mit dem Tod v.a. deshalb, weil er ihm selbst keine Gestalt geben kann. Er schreibt: "Der Tod war schlimmer als alles andere, weil alles andere erlebt werden konnte, nur der Tod nicht. Alles andere konnte bedacht, erinnert, erzählt, es konnte in die Biografie integriert werden. Das war Erleben: etwas nicht nur im Moment haben, sondern als Teil der Biografie."

"Man kann nicht selbst Bilanz ziehen"

"Wie gnädig" sein Sterben sei im Gegensatz zu dem von Leo Tolstois Held in "Der Tod des Iwan Iljitsch", konstatiert Martin Brehm einmal. Bernhard Schlink feiert im kommenden Jahr seinen 80. Geburtstag. Ein Alter, in dem viele zurückschauen und Bilanz ziehen. Sein Romanheld sieht auch das ganz nüchtern: "Nein, für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und macht das, und am Ende war’s ein Leben. Mehr ist nicht." Spricht auch aus diesen Sätzen Schlink selbst? "Ich bin jedenfalls sicher, dass man selbst nicht Bilanz ziehen kann. Bilanz ziehen die anderen", zeigt er sich überzeugt: "Man hat im Leben Gutes und Schlechtes erlebt, Erfolge und Misserfolge gehabt, ist hier schuldig geworden und hat da helfen können. In welcher Währung sollte das denn verrechnet werden? Bilanz zu ziehen bedeutet ja nicht nur, dass wir uns erinnern und noch einmal auflisten, was war. Sondern es heißt: wir verrechnen das, und dann kommt was Positives oder Negatives heraus. In welcher Währung sollten wir das verrechnen?"

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes Verlag. 26,- Euro

Dieser Artikel ist erstmals am 12. Dezember 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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