Bestsellerautor Haruki Murakami
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Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer, der neue Roman des japanischen Bestsellerautors, der am 12. Januar 75 Jahre alt wird.

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Der neue Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer"

Der neue Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer"

Haruki Murakami ist mit seinen an Träumen und Parallelwelten reichen Romanen der erfolgreichste Vertretet der japanischen Gegenwartsliteratur. An seinem 75. Geburtstag erscheint auf Deutsch sein neuer Roman: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer".

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Ein Ich-Erzähler, ein Mann Mitte vierzig, denkt, an einem Tiefpunkt seines eintönigen Lebens angekommen, an seine Jugendliebe zurück, als er 17 und sie 16 war. Eine große, unbedingte Liebe, die eine offene Wunde hinterlassen hat. Denn diese junge Frau war eines Tages verschwunden, ohne Nachricht, ohne je wieder aufzutauchen. Eine Frau, die verschwindet – das ist eine fast schon klassische Konstellation, die vielen Romanen Murakamis zugrunde liegt. Freilich mit immer neuen Variationen, denn der Ich-Erzähler in diesem Roman hat eine Spur.

Die Stadt der Geliebten

Er ruft sich jenen Tag vor Augen, als sie ihm von der Stadt mit der hohen Mauer erzählt: "Die Stadt liege an einem schönen Fluss und habe drei steinerne Brücken (Ostbrücke, Westbrücke und Alte Brücke), erzählst du weiter, und es gebe dort eine Bibliothek, Wachtürme, eine verlassene Gießerei und einfache Gemeinschaftsunterkünfte. Schulter an Schulter sitzen wir im schwindenden Licht des Sommerabends und blicken auf die Stadt. Mal blinzelnd aus der Ferne von einem Hügel, dann wieder mit großen Augen aus so unmittelbarer Nähe, dass ich sie fast mit Händen greifen kann. 'Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer', sagst du. 'Heißt das, das, was ich jetzt sehe, bist in Wirklichkeit gar nicht du?', frage ich natürlich. 'Nein, was du siehst, ist nur eine Art Stellvertreterin. Ein wandernder Schatten.'"

Die Stadt mit der hohen Mauer, die Frage nach dem wahren Ich und ein Leben als Schatten. Das sind die zentralen und immer wiederkehrenden Motive dieses Romans. Sie kreisen um eines der Hauptthemen in Murakamis Erzählkosmos, der Verlorenheit und Einsamkeit des Individuums in modernen Gesellschaften, dem jegliche Geborgenheit verloren gegangen ist. Dem Ich-Erzähler ist sie durch den Verlust dieser Liebe entstanden. Hier nun kommt die Stadt mit der hohen Mauer ins Spiel, die, auch wenn sie klar als Konstrukt der Geliebten – also als bloß ausgedacht – deklariert wird, schleichend eine reale, fast übermächtige Gestalt annimmt. Ausgelöst durch die Sehnsucht nach dieser verlorenen Liebe gelangt Murakamis Held in diese Stadt, die beim Eintritt freilich einen hohen Preis verlangt.

Menschen ohne Schatten

In dieser Stadt habe niemand einen Schatten, heißt es im Roman: "Natürlich ist es nicht leicht, seinen Schatten aufzugeben. Es ist stets ein beunruhigender Verlust, sich von jemandem oder etwas zu trennen, mit dem man gewohnheitsmäßig viele Jahre verbracht hat. Wer oder was es auch sei. Bevor ich die Stadt betreten durfte, musste ich meinen Schatten am Eingang der Obhut des Torwächters übergeben. 'Mit einem Schatten kannst du nicht hinter die Mauer'".

Der Schattenverlust ist ein bekanntes literarisches Motiv, nicht zuletzt durch Chamissos Erzählung von Peter Schlemihl. Lässt sich der Schatten dort als das eigentliche Wesen eines Menschen deuten, so ist er in Murakamis neuem Roman die Grundbedingung des Lebens in der realen, natürlichen Welt. Eine Erkenntnis, die den Entschluss des Ich-Erzählers, Teil dieser Stadt werden zu wollen, ins Wanken bringt. Denn diese erweist sich als ein karger, lebensreduzierter Ort mit apathisch wirkenden Menschen, er findet zwar seine Liebe wieder, nur kann sie sich nicht an ihn erinnern. Worauf der Held mit seinem abgelegten Schatten wieder in Kontakt kommt.

Das Fantastische inmitten der nüchternen Welt

"Du solltest dich wieder mit mir zusammentun und in die Welt außerhalb der Mauer zurückkehren", heißt es im Roman. Und weiter: "Es geht mir nicht nur darum, mein Leben zu retten. Es geht mir auch um dich. Und das meine ich ehrlich. Sieh es doch mal mit meinen Augen. Da drüben ist die wirkliche Welt, in der die Menschen leiden und alt und schwach werden und dahinsiechen und sterben. Nicht gerade lustig, oder? Aber so ist er nun mal, der Lauf der Welt. Und ich, so unbedeutend ich auch sein mag, bin ein Teil davon. Die Zeit lässt sich nicht aufhalten, und was tot ist, bleibt für immer tot. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als diesen Zustand zu akzeptieren." Das Auftauchen paralleler Welten, die Existenz des Fantastischen inmitten einer völlig realistisch, manchmal geradezu nüchtern beschriebenen Szenerie, all das macht wiederkehrend den magischen Reiz der Romane Murakamis aus, auch hier. Der Ich-Erzähler – oder ist es sein Schatten? – taucht plötzlich wieder in dieser Welt auf, wird Bibliotheksleiter in einer einsamen japanischen Bergstadt.

Seltsame Begegnungen dort zwischen ihm und dem eigentlich gestorbenen Bibliotheksgründer sowie einem halbwüchsigen autistischen Jungen schaffen aber immer wieder unheimliche Berührungspunkte mit der Stadt mit der hohen Mauer. Es liegt in der Logik dieses spannenden und gefangennehmenden Romans, dass auf sie alles zusteuert. Und es ist eine Güte des Romans, dass seine komplexen, verflochtenen, immer geheimnisvollen Handlungslinien letztlich doch wie ein fester Strich auf eine Auflösung zulaufen, die es auch nur dort geben kann. Wie sie zu deuten ist, das bleibt offen.

Es sind stets die starken Romane Murakamis gewesen, die der Leserschaft genug Raum für das eigene Denken lassen. Dieser hier gehört dazu. Und auch wenn der Roman eine gewisse Zugkraft nach unten hat und das 600 Seiten lang, so lässt er sich völlig anstrengungslos lesen. Dank der genial einfachen Sprache Murakamis.

Haruki Murakami: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" ist bei Diogenes erschienen.

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