Das Haus, das nicht zur Ruhe kommt, ist das der Atriden. Agamemnon, Feldherr und Patriarch der Sippe, kehrt nach zehn Jahren Krieg um Troja heim. Einst opferte er seine Tochter Iphigenie, um die Göttin Artemis zu besänftigen, damit diese die Windstille beendet, die Agamemnons Flotte daran hinderte, nach Troja zu segeln.
Agamemnons Ehefrau Klytaimnestra kann ihrem Mann nicht verzeihen, dass er die gemeinsame Tochter geopfert hat und erschlägt den Gatten. Sohn Orest wiederum wird später den Mord am Vater rächen und die Mutter töten. Gewalt gebiert immer neue Gewalt in diesem "Haus ohne Ruhe".
Die Orestie aus weiblicher Perspektive
Nicht anders als in der antiken Vorlage tritt auch bei Zinnie Harris ein Chor auf - in Jochen Schölchs Inszenierung ein zerlumpter Haufen versehrter Männer. Sie könnten die geschundenen Kriegsheimkehrer sein oder auch die Alten und Kranken, die daheim auf die Rückkehr der Krieger gewartet haben. Harris erzählt zunächst eng am Original entlang. Und doch wird bald eine entscheidende Akzent-Verschiebung deutlich, die auch für Schölch den Reiz dieser Bearbeitung ausmacht.
In der Original-Orestie erfahre man nicht viel mehr, als dass Orest Iphigenie umbringt, nach zehn Jahren aus Troja zurückkommt und dann von seiner Frau Klytaimnestra umgebracht werde. In der Bearbeitung von Zinnie Harris aber "erfährt man ganz viel aus der Sicht der Frauen", so Schölch. Harris "schreibt viele Szenen, die nicht erzählt wurden". Warum eine vor allem weibliche Perspektive? Der Regisseur: "Die Setzung hier ist, dass die Krieger, die Männer, die Götter installieren, um zu beglaubigen, warum sie ihre Macht so ausüben. Und das wird dann von den weiblichen Protagonisten total infrage gestellt."
Fragen nach Schuld und Verantwortung
Zinnie Harris stellt Fragen nach Schuld und Verantwortung für eine Spirale der Gewalt, die scheinbar keinen Anfang und schon gar kein Ende kennt. Sie stellt diese Fragen auf individueller Ebene ebenso wie auf kollektiver, gesellschaftlicher - und unterfüttert den Mythos mit moderner Figurenpsychologie. Dementsprechend mischt sich in die kraftvoll-archaische Sprache des Stücks immer wieder Gegenwarts-Vokabular, und im antiken Tempel-Setting der Bühne von Schölchs Inszenierung tauchen Accessoires von heute auf: eine protzige Armbanduhr am Handgelenk Agamemnons, eine hochgesteckte Sonnenbrille im Haar Kytaimnestras, ein Walkie-Talkie in der Hand eines Wächters.
Wie die "Orestie" des Aischylos ist auch die Neudichtung von Zinnie Harris als Trilogie angelegt. Aber im dritten Teil löst sich die Autorin von der Vorlage und kehrt die Verhältnisse um: Statt Archaik durchsetzt mit Gegenwart gibt es nun Gegenwart mit archaischem Unterbau. Der dritte Teil spielt quasi in einer psychiatrischen Anstalt. "Interessant ist an Setzung", so Schölch: "Wenn man heute über Fluch, über Götter, die einen verfolgen spricht, würde man sofort eingesperrt werden. Alles, was früher in der Mythologie außen war, das ist heute innen in uns und bestimmt uns. Diesen großen Bogen umspannen diese drei Tage."
Ein Abend mit langem Atem also. Wuchtiges Erzähltheater. Ingolstadts Intendant Knut Weber hat diese Inszenierung daher bewusst an den Anfang der Bayerischen Theatertage gesetzt. Diese markieren zugleich den Anfang des Finales seiner Amtszeit, die mit Saisonschluss im Juli nach 13 Jahren zu Ende geht. Tatsächlich verspricht "Haus ohne Ruhe" am Theater Ingolstadt zum Auftakt der Bayerischen Theatertage 2024 ein Abend zu werden, der von der Kraft des Ensembles und ganz entscheidend auch von der Wucht des antiken Chores lebt, dessen Warnung man aber unbedingt nicht befolgen sollte.
Die 39. Bayerischen Theatertage
Wie immer, so ist auch heuer das jährliche Stelldichein von Bayerns Bühnen ist Leistungsschau, Plattform für den Austausch unter den Theaterschaffenden und vor allem: ein Geschenk ans Publikum in der jeweiligen Gastgeberstadt, das ein breit gefächertes Angebot mit Gastspielen aus allen Ecken des Landes erwartet.
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