Nie hat man die Exzentrik dringender gebraucht als jetzt in diesen Zeiten, oder? Den Geist der Überschreitung, ein undressiertes Denken und Gestalten. "Haben wir doch!", könnte man meinen, jede politische Nachricht ein Überschuss an Verrücktheit und Verdrehtheit. Aber dahinter stehen Hysterie, Hass und Lüge, das ist zielgerichtet und manipulativ. Die wahre Exzentrik dagegen ist toleranter als man es ihr zuschreibt, meint Bernhard Schwenk, Co-Kurator der Ausstellung "eccentric" in der Pinakothek der Moderne.
- Zum Artikel: "Präzisionskunst: Almut Heise in der Pinakothek der Moderne"
Exzentrische Persönlichkeiten sind ungefährlich
"Exzentrische Persönlichkeiten sind fröhliche Menschen", sagt Schwenk, das habe eine der wenigen Studien festgestellt. Es sei auch kein Leiden, exzentrisch zu sein. "Exzentrische Persönlichkeiten sind nie gefährlich, sie buhlen ja eigentlich darum, dass ihre Welt verstanden wird und dass man sich auf ihren Kosmos einlässt."
Vielfalt an Perspektiven
Man kann sich den Exzentriker also als glücklichen Menschen vorstellen. Oder vielleicht als glücklichen Bären. Wie die übermenschgroßen Exemplare von Paola Pivi, die da herumtollen, nicht aus Plüsch, sondern in grünem, pinkem, rotem oder lilanem Federkleid.
Das Exzentrische lässt zu, was im öffentlichen politischen Raum zunehmend ausgesperrt wird: eine Vielfalt an Perspektiven. Ein Schild am Beginn der Ausstellung warnt vor dem umgekehrten ausschließenden Vorgang. Der Zutritt, so schreibt der spanische Künstler Santiago Sierra, sei unter anderem verboten für Raucher, Alkoholiker, Obdachlose, schwangere Frauen, Studenten, Uniformierte, Flüchtende, Analphabeten, Zyniker usw. Das ist der Kern faschistischen Denkens. Am Ende bleibt kaum jemandem das Existenzrecht zugestanden.
"Störenfriede", mit denen man sich auseinandersetzen muss
Auch habe man festgestellt, so Co-Kurator Schwenk, dass exzentrische Persönlichkeiten sich nicht beugten. "Vielleicht sind sie deswegen auch heute so wichtig, weil je mehr Störenfriede es gibt, umso mehr muss man sich mit anderen Lebensformen auseinandersetzen."
Ästhetik der Freiheit
Ein bekanntes Video von Pipilotti Rist hat nichts von seiner anarchistischen Poesie eingebüßt: die Künstlerin schlendert eine Straße an geparkten Autos entlang, in der Hand eine Pflanze mit einem langen Stil, mit dem sie unversehens ausholt und die Blüte gegen eine Autoscheibe donnert, sodass sie birst. Es gibt nichts, was sich nicht mit Phantasie, sogar Schönheit aushebeln lässt. Hier wird der Untertitel der Exzentrikausstellung eingelöst: eine Ästhetik der Freiheit.
Pia Maria Raeder designt Möbel - verkaufbare Kunst, die in einer Lounge des Museums ausgestellt ist, Exzentrik zum Sitzen oder trostvollen Kontaktaufnehmen. "Mischwesen zwischen Natur, Tier und Pflanzenwelt" nennt Schwenk sie. "Die eine Art Beschützer für denjenigen sein sollen, der abends kommt." Deswegen sei die Technik auch versteckt. "Sie sehen, es ist ein kleiner Lichtmelder, dass man den hier so streichelt, hallo mein Lieber! Und dann geht der an."
In alle Richtungen denken, der diffusen Stimmungslage aus Angst zum Trotz
Was passiert eigentlich, wenn einer Gesellschaft die exzentrischen Ränder fehlen? Kollabiert dann die konforme Mitte, in all ihrer unbeweglichen Schwere und verschwindet selbst, wie in einem Schwarzen Loch? Oder ist, was denkbar ist, immer auch machbar? Sollten wir also nicht anfangen, in alle Richtungen zu denken? Der diffusen Stimmungslage aus Angst und Ablehnung, der Einschüchterung und Gedankenstarre antwortet "Eccentric" in der Pinakothek der Moderne mit einem mal fluffigen, mal hintersinnigen, jedenfalls exzentrisch-heiteren "JA".
Im Video: Einblicke in die Ausstellung "Eccentric. Ästhetik der Freiheit"
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!