Jugendliche trainieren zu Hause vor einem Fitness-Video
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Sport muss für Kinder und Jugendliche aus Sicht von Wissenschaftlern auch in der Corona-Krise ausreichend möglich sein.

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Bewegung oder Bildschirm: Bremst der Lockdown den Nachwuchs aus?

Bewegung oder Bildschirm: Bremst der Lockdown den Nachwuchs aus?

Nun ist er da, der Lockdown. Alle sollen sich ruhig verhalten und daheim bleiben - auch Kinder, die körperliche Aktivitäten eigentlich besonders brauchen, um sich gesund zu entwickeln. Experten fordern deshalb mehr Sportangebote für die Jüngsten.

Über dieses Thema berichtet: Campus Magazin am .

Wer körperlich und geistig fit bleiben will, sollte sich regelmäßig bewegen - das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Doch da seit November Vereinssport und Fitnessangebote in der Halle nicht mehr möglich sind, fällt Jungen und Mädchen mitunter buchstäblich die Decke auf den Kopf. Umso schlimmer, da im Lockdown nun auch das gemeinsames Toben und Spielen mit Freund oder Freundin nicht mehr stattfinden darf.

Bewegung entscheidend für kindliche Entwicklung

Mirko Brandes vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen sieht darin eine gefährliche Entwicklung. Einschränkungen der körperlichen Aktivität durch Corona-Maßnahmen treffe Kinder und Jugendliche in einer wichtigen Entwicklungsphase. Studien zeigten, dass ein körperlich aktiver Lebensstil in der frühen Kindheit beginne und die Bewegungsfreude während der Entwicklung zum Jugendlichen und Erwachsenen beständig mittel bis hoch bleibe.

"Das Bewegungsverhalten verfestigt sich in der Kindheit und Jugend." Mirko Brandes vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen

Sporthausaufgaben im Lockdown

Tatsächlich scheint es, als würden Jungen und Mädchen durch die Corona-Pandemie in ihrem Bewegungsdrang ausgebremst. Eine nicht repräsentative Befragung in zehn Ländern unter 8.395 Kindern und Jugendlichen ergab, dass deren Sportangebote während der Pandemie deutlich zurückgegangen sind. So hatten 74 Prozent der Befragten keinen Sportunterricht mehr. Für Deutschland ergab die Untersuchung, dass nur noch 14 Prozent der Mädchen und 18 Prozent der Jungen ausreichend körperlich aktiv waren. Für Kinder und Jugendliche empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation eigentlich täglich 60 Minuten Bewegung. Sportwissenschaftler Mirko Brandes stellt deshalb klare Forderungen: Auch im Lockdown sei es unbedingt notwendig, (Online-)Sportunterricht oder Bewegungshausaufgaben für den Nachwuchs bereitzustellen.

Weniger Bewegung, mehr Medienkonsum?

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch eine Studie des Uniklinikums Münster. Demnach habe sich mehr als ein Viertel von rund 1.000 befragten Schülerinnen und Schülern während des ersten Lockdowns im April und Mai nahezu überhaupt nicht mehr bewegt. Gleichzeitig sei die Zeit am PC, Laptop oder Smartphone bei vielen auf bis zu acht und mehr Stunden am Tag gestiegen. Für die Studie waren Jugendliche im Alter zwischen elf und 17 Jahren aus der Region Münster online befragt worden.

"Grundsätzlich hatten wir eine Abnahme der Bewegung und des psychischen Wohlbefindens während der Pandemierestriktionen erwartet", sagte Studienleiter Manuel Föcker. Doch das Ausmaß überrasche dann doch. Vor Corona brächte es etwa jeder Fünfte der Befragten auf bis zu acht und mehr Stunden Bildschirmzeit am Tag. Während der Beschränkungen habe das auf fast die Hälfte aller Jugendlichen zugetroffen.

Kein Zusammenhang zwischen Bewegung und Bildschirm

Alexander Woll, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), kann aus seinen Daten hingegen keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen mangelnder Bewegung und einem verstärkten Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen ablesen. Der Sportwissenschaftler leitet die Motorik-Modul-Studie (MoMo) des KIT und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut, die seit 2003 die motorische Leistungsfähigkeit und das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen untersucht.

Ergänzungsstudie zur Pandemie

In einer Ergänzungsstudie zu den Auswirkungen der Pandemie wurden rund 1700 Mädchen und Jungen im Alter von 4 bis 17 Jahre nach ihrem Bewegungsverhalten während des ersten Corona-Lockdowns befragt - mit überraschenden Ergebnissen. Zum einen hatten sich auch jene Schüler einen Ersatz für den Wegfall von Sportangeboten in der Schule gesucht, die vorher in ihrer Freizeit nicht sonderlich aktiv waren. Zum anderen verbrachten Kinder und Jugendliche zwar im Durchschnitt eine Stunde mehr Zeit am Bildschirm – sie bewegten sich aber täglich auch rund 36 Minuten länger bei Alltagsaktivitäten, also Spielen im Garten oder Radfahren. Mehr Medienzeit bedeutet also nicht automatisch weniger körperliche Aktivität – ein Trend, der in der MoMo bereits seit längerem beobachtet wird:

"Es ist nicht so, dass mehr Medienzeit pe se weniger körperliche Aktivität bedeutet." Sportwissenschaftler Steffen Schmidt, Erstautor der MoMo-Corona-Ergänzungsstudie, KIT

Die Ergänzungsstudie, die jetzt in der Zeitschrift "Scientific Reports" veröffentlicht wurde, dokumentiert genau, dass im Frühjahr, als Sport- und Turnvereine dichtmachten, weniger organisierter Sport (im Schnitt minus 28,5 Minuten täglich) angeboten wurde. Dafür nutzten insbesondere die 6- bis 10-Jährigen die neu gewonnen zeitlichen Freiräume, um ihrem Bewegungsdrang im Hof, auf der Straße oder im Garten nachzugeben. Neben ihrer Alltagsbewegung verbrachten die Kinder und Jugendlichen knapp 18 Minuten mehr pro Tag mit "unorganisiertem Sport" wie Kicken, Basketball- oder Federballspielen. Einen nicht unwesentlichen Einfluss hatte dabei der Wohnort der jungen Befragten:

"Am besten durch die Krise gekommen sind Einfamilienhäuser mit Garten - wenn man es unter einer Bewegungsperspektive sieht." MoMo-Studienleiter Alexander Woll, KIT

Kinder, die in Hochhaussiedlungen und in Innenstädten lebten, hätten es in der Pandemie schwerer, weil es für sie oft zu wenig Raum und Möglichkeiten gäbe, aktiv zu sein. Insgesamt haben Kinder während des Lockdowns also mehr selbstständig draußen gespielt. Dies habe, so Alexander Woll, aber nicht die gleiche Intensität wie Vereinstraining, das aber für positive Effekte wie Fitnesssteigerung und Stressvorbeugung nötig sei. Zudem zeige die Befragung die Momentaufnahme eines besonders warmen Frühjahrs, das möglicherweise besonders zum Spielen ins Freie lockte.

Düstere Perspektive für den Winter

Vor dem ersten Lockdown gab es in Deutschland so viel Vereinssport wie noch nie. Rund 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland waren in Sportvereinen aktiv. Für den derzeitigen Winter-Lockdown befürchtet Alexander Woll nun, dass die Inaktivität bei jungen Menschen weiter zunimmt. Gerade in der dunklen Jahreszeit falle es schwer, sich selbstständig Alltagsbewegung zu suchen. Zwar gibt es inzwischen deutlich mehr digitale Bewegungsangebote auch für die Jüngeren. Aber ein Workout im Wohnzimmer ist eben doch nicht mit dem Training auf dem Fußballplatz zu vergleichen.

„"Wie sich der Wegfall von Sport in Schule und Verein langfristig auf die Motorik oder das Übergewicht auswirkt, wissen wir noch nicht." MoMo-Studienleiter Alexander Woll, KIT

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