Vor wenigen Tagen: Hüseyin Bayri scheint entspannt. Bei einem Milchkaffee erzählt er vom 22. Juli 2016, der friedlich anfing und traumatisch endete.
Ein Tag, der friedlich beginnt und traumatisch endet
Mit dem Fahrrad fährt er an diesem Tag vor neun Jahren am Olympia-Einkaufszentrum vorbei, ein junger Mann lässt ihn passieren. Dann bricht er plötzlich zusammen. Hüseyin hört Platzgeräusche. Dass es Schüsse sind, versteht er im ersten Moment nicht.
Instinktiv wirft sich Hüseyin neben dem jungen Mann zu Boden. Es ist Giuliano Kollmann, eines der neun Opfer des OEZ-Attentats. Hüseyin weiß das da noch nicht. Er sieht nur die Schusswunden an seinem Oberkörper und versucht, Giuliano das Leben zu retten. "Es waren drei Schusswunden. Ich hab mir zu der Zeit gewünscht, dass ich drei Hände hätte", erzählt er. Während er mit ihm spricht, kommt der Angreifer auf die beiden zu. "Ich hab' hochgeschaut, in den Lauf reingeschaut. Und dann hat’s schon zweimal Klick, Klick gemacht, er hat abgedrückt und dann bin ich in Ohnmacht gefallen", erinnert sich Hüseyin. Als er wieder aufwachte, erzählt er heute, war seine Kleidung voll Blut und Guiliano tot.
Täter sagte: "Ich hasse Ausländer"
Hüseyin erinnert sich im Gespräch mit dem ARD-Politikmagazin report München noch genau an den Moment, bevor der Schütze abdrückte. Sein ganzes Leben sei an ihm vorbeigezogen. Und: Er habe deutlich gehört, wie der Täter sagte: "Ich hasse Ausländer". Schon 2016 habe er das allen erzählt.
Jahrelang bewertete das Bayerische Landeskriminalamt dieses Attentat als Amoklauf ohne politisches Motiv. Ein Gutachten der Stadt München sagte dagegen schon 2017: Es war Rechtsterrorismus. Weitere Gutachten folgten. 2019 schloss sich das bayerische Landeskriminalamt der Beurteilung an. Seither gilt das OEZ-Attentat offiziell als "Politisch motivierte Gewaltkriminalität - rechts".
Der Täter hatte gezielt migrantisch aussehende Menschen im Visier. Und er orientierte sich stark an dem Rechtsextremen, der für das Attentat von Utøya 2011 verantwortlich ist. In München starben neun Menschen: Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kiliç und Sevda Dağ.
Seit 2015 wurden laut Bundesinnenministerium insgesamt 45 Personen durch diesen und andere terroristische Anschläge in Deutschland getötet. Nicht enthalten sind dabei Opfer von Amokläufen, wie die Amokfahrt in Trier 2020, bei der sieben Menschen starben.
Hüseyin ist noch immer traumatisiert
Das Ereignis am OEZ hat Hüseyin verändert. Die ersten Monate nach dem Attentat habe er oft stundenlang die leere Wand angestarrt: "Also ich bin zwar noch am Leben. Aber ein Teil von mir ist damals verstorben."
Neun Jahre später geht es Hüseyin minimal besser. Er wirkt entspannt, aber noch immer meidet er den Ort, er hat Schlafprobleme, Panikattacken und eine Post-Traumatische-Belastungsstörung (PTBS). Zum Einschlafen nimmt er Medikamente.
Traumata wie Erinnerungen in "Rohform"
Hüseyins Erfahrungen sind nicht ungewöhnlich. Denn zur PTBS gehöre gerade, dass das Erlebte nicht als vergangenes Ereignis abgespeichert wird, sagt Prof. Dr. Thomas Ehring, er ist Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. "Das heißt, dass sich die Betroffenen so fühlen und so verhalten, als wäre die Bedrohung immer noch da", erklärt er. Aber Thomas Ehring betont auch, es gebe nicht die eine Reaktion auf Trauma.
"Liebe ist stärker als Hass"
Hüseyins Familie half ihm aus dem Loch. Seine Frau habe ihn auf andere Gedanken gebracht, und seine drei Kinder ihm wieder einen Lebenswillen gegeben. Er habe Suizidgedanken und -versuche gehabt. Aber: "Familie und Liebe ist stärker als Hass." Mittlerweile kann er über das Erlebte reden. "Ich kann die Leute warnen, dass Rassismus tödlich ist."
"Sobald sich der Tag nähert, geht für uns die Welt unter"
Wie immer, wenn es auf den Jahrestag zugeht, wird Hüseyin angespannter. "Sobald sich der Tag nähert, geht für uns die Welt unter", sagt er, während er eine weitere Zigarette anzündet. "Neun Jahre hört sich für euch vielleicht viel an, aber für mich fühlt sich das wie letzte Woche an", ergänzt er.
Dieses Jahr will er aber bei der Kundgebung am Gedenkort eine Rede halten. Es wird emotional, mutmaßt er. Aber er macht das, "damit ich meine Vergangenheit akzeptiere und lockerer drüber reden kann und vielleicht werde ich ja dadurch irgendwie psychisch stabiler".
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