Leonard Ihßen ist auf dem Weg in die JVA Berlin-Plötzensee. Aus Friedrichshain fährt er mit der S-Bahn los, geht dann zu Fuß weiter, die letzten Meter bis zum Gefängnistor. Bei sich hat er nichts als einen Rucksack - und einen Koffer mit 3.500 Euro in bar. Damit will Leonard Ihßen fünf inhaftierte Schwarzfahrer freikaufen.
Wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis – das passiert in Deutschland jedes Jahr tausendfach. Zumeist, wenn Menschen ihre Geldstrafen nicht bezahlen. Dann greift die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe: eine Ultima Ratio des Staates, die vor allem mittellose Menschen trifft. Für Kontrovers – die Story haben zwei Reporterinnen mit Justiz und Polizisten, mit Sozialpädagogen und Betroffenen gesprochen. Ist die Ersatzfreiheitsstrafe gerecht oder ist sie zu hart?
"Freiheitsfonds" kauft Schwarzfahrer frei
Leonard Ihßen hat darauf eine klare Antwort. Er wünscht sich eine Gesetzesänderung, die das Schwarzfahren entkriminalisiert: Geldstrafen ja, Haft nein. Ihßen arbeitet für das Projekt "Freiheitsfonds". Das hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schwarzfahrer aus dem Gefängnis zu holen – mit Spendengeldern. Aus der JVA Berlin-Plötzensee hat Leonard Ihßen fünf Menschen freigekauft. Insgesamt waren es an diesem Tag bundesweit mehr als 100, die von "Freiheitsfonds" aus der Haft geholt wurden.
In deutschen Gefängnissen landen Schätzungen zufolge zwischen acht- und neuntausend Schwarzfahrer pro Jahr. Ein Hafttag kostet circa 200 Euro, in Summe wären das mehr als 125 Millionen Euro jährlich, allein für das Bagatelldelikt Schwarzfahren. Getragen werden diese Kosten vom Steuerzahler.
Richter Laurent Lafleur begründet die Ersatzfreiheitsstrafe. Wenn sich der Staat dafür entschieden habe, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen, müsse er diesen Strafanspruch auch durchsetzen. Und überhaupt: "Wie soll ich das den Leuten erklären, die sich jeden Tag eine Fahrkarte kaufen und die sich als Gesellschaft darauf geeinigt haben?"
Im Video: Wie sinnvoll ist die Ersatzfreiheitsstrafe?
Ersatzfreiheitsstrafe: Jeder fünfte Betroffene ist obdachlos
Manchen Menschen fehlt das Geld, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Sie sind es, die von der Ersatzfreiheitsstrafe betroffen sind: Arbeitslose, Verschuldete, Suchtkranke. Jeder Fünfte ist gar obdachlos oder lebt in sozialen Einrichtungen. Mario war einer von ihnen. Er ist alkoholkrank, lebte 30 Jahre lang auf der Straße und war insgesamt ein Jahr lang in Haft, weil er schwarzgefahren ist. Mario sagt: "Man kann nicht alle Strecken zu Fuß gehen. Wenn man kein Geld hat, versucht man, schwarzzufahren." Gerade im Winter sind Busse und Bahnen Zufluchtsorte, sie schützen vor Kälte.
Irgendwann häufen sich die Rechnungen, Mario kann sie nicht bezahlen. Gegen ihn wird Strafanzeige erstattet, er zahlt wieder nicht. Schließlich: ein offener Haftbefehl, die Polizei sucht nach ihm. Am Düsseldorfer Hauptbahnhof läuft Mario den Beamten in die Arme – und muss ins Gefängnis. Seine Mithäftlinge hätten ihn belächelt: Weil er wegen einer Kleinigkeit einsitze. Heute bekommt Mario Bürgergeld und lebt in einer Sozialwohnung.
Zwei Auswege: Ratenzahlung oder Sozialstunden
Für Richter Laurent Lafleur ist die Ersatzfreiheitsstrafe "das letzte Sicherungsinstrument, um eine Geldstrafe durchzusetzen". Zwei Auswege gibt es allerdings für Menschen wie Mario, die größere Summen nicht bezahlen können: Ratenzahlung oder Sozialstunden.
Beides vermittelt die Münchner Sozialpädagogin Lena Ädlwirth. Sie bietet Beratungsstunden an, um Betroffene vor dem Gefängnis zu bewahren. In Kontrovers – die Story erklärt sie, dass zwar jeder die Chance habe, die Haft zu vermeiden, aber: "Wenn jemand jetzt drei Verfahren hat und nur Bürgergeld bekommt, also 520 Euro ungefähr im Monat, dann ist es eben einfach nicht möglich mehr als 150 Euro zu zahlen und noch zu leben." Aus ihrer Sicht beseitige es nie die Probleme einer Person, wenn man sie inhaftiere. Die habe sie danach noch immer.
Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft vor allem Menschen in prekären Lebenssituationen. Immer wieder werden deshalb Forderungen laut, dass niemand für eine Geldstrafe im Gefängnis landen sollte. Juristisch bleibt die Ersatzfreiheitsstrafe bis dato das letzte Strafmittel.
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