Schülerinnen in einem Luftschutzkeller mit Büchern. Archivbild aus Odesa, Februar 2023
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Schülerinnen in einem Luftschutzkeller mit Büchern. Archivbild aus Odessa, Februar 2023

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Luftschutzkeller für Einhörner: Ukrainisches Leben im Krieg

Luftschutzkeller für Einhörner: Ukrainisches Leben im Krieg

Was treibt eine junge Mutter mit kleinen Kindern dazu, wieder zurück in die Ukraine zu ziehen? Weg aus dem sicheren Bayern, wo sie Zuflucht gefunden hatten? Die Gründe erzählen viel über Stolz, Widerstand und die ukrainische Gesellschaft.

Über dieses Thema berichtet: Die Entscheidung am .

Odessa, Südukraine: Wenn der Luftalarm losgeht, ist für Yevgenia klar, was sie zu tun hat. Sie holt ihr Handy raus und checkt über verschiedene Frühwarnsysteme, wohin die Raketen fliegen. Ist sie außerhalb der Angriffslinie, geht ihr Alltag erst einmal weiter.

Wenn klar ist, dass die Raketen auf ihr Wohngebiet zufliegen, sagt sie, haben sie und ihre Kinder fünf Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen und in den Luftschutzkeller zu fliehen. Sie und ihr Mann versuchen dabei, für ihre Kinder so viel Normalität wie möglich zu erhalten: "Wir nehmen die Roller mit und irgendwelche Spielsachen. Auch die Nachbarskinder sind oft da", erzählt sie.

Kindheit im Krieg – mit Einhörnern

Yevgenia ist Anfang 30 und arbeitet in Odessa als Dolmetscherin. Odessa ist seit Kriegsbeginn immer wieder Ziel der russischen Angriffe, die Stadt ist die wichtigste Hafenstadt der Ukraine.

Yevgenia hat zwei Töchter. Eine ist im Kindergarten, die andere ist noch ein Baby. Natürlich fragt sie sich, wie sehr der Krieg Spuren hinterlässt. Bei den Kindern und bei ihr selbst. Sie glaube zwar nicht, dass sich ihre beiden Mädchen direkt bedroht fühlen. "Aber die Einhörner im Spielzeughäuschen meiner Tochter haben auch einen Luftschutzkeller."

Keiner kann aus dem Krieg aussteigen

Trotz der Gefahr ist sich Yevgenia sicher, dass Odessa im Moment der richtige Platz für sie und ihre Familie ist. Sie hat sich bewusst dafür entschieden, dort zu leben – statt in Deutschland. Ihr Mann ist Deutscher und gleich zu Beginn des Krieges, sind sie zu seiner Familie nach Bayern geflohen.

Dort hätten sie auch weiter bleiben können. Aber Yevgenia sagt, im Ausland sei der Krieg für sie noch schwerer ertragbar gewesen, der Schmerz und die Angst noch größer als in der Ukraine: "Du hast das Gefühl, dass du die Situation nicht kontrollieren kannst. Es ist natürlich schön, dass du nachts in Ruhe schlafen kannst. Aber dass man komplett aus dem Krieg aussteigt, das habe ich bei noch keinem erlebt."

Rückkehr als Zeichen des Widerstands

Als sich in Odessa nach den ersten Kriegsmonaten Handyfrühwarnsysteme und Luftabwehr so verbessern, dass sie sich sicher genug fühlt, sich auf sie zu verlassen, zieht die Familie zurück. Für Yevgenia ist ihre Rückkehr in die Ukraine auch Teil des Widerstands gegen Russland: "Wozu kämpfen unsere Männer, wenn alle weggehen? Man muss das Leben zurückbringen!"

Knapp über eine Million Menschen sind laut dem Ausländerzentralregister seit Kriegsbeginn aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Hauptsächlich Frauen und Kinder. Um die 300.000 Menschen haben Deutschland seit dem wieder verlassen. Wohin, das ist nicht erfasst.

Wenn auf einmal die Muttersprache vergiftet ist

Für Katerina kommt es dagegen auf keinen Fall infrage, zurückzugehen. Zumindest vorerst nicht. Sie ist 37 und arbeitet gerade in Spanien. Sie kommt aus Luhansk, also aus dem von Russland besetzten Osten der Ukraine. Wenn sie ihre Geschichte erzählt, wird schnell klar, wie tief die Verletzungen gehen, die entstehen, seitdem der Nachbar und ehemals enge Partner Russland die Ukraine angreift. Katerinas Muttersprache ist Russisch. Ukrainisch hat sie in ihrer Kindheit kaum gesprochen, es war im Osten der Ukraine nicht weit verbreitet.

Katerina hat schon als Jugendliche Luhansk verlassen und ist nach Kiew gegangen, dann zum Studieren nach Deutschland und zum Leben und Arbeiten nach Spanien. Sie redet und schreibt auf verschiedensten Sprachen. Aber ihre Muttersprache, Russisch, will sie seit dem Krieg nicht mehr schreiben: "Ich bin so sauer auf alles Russische, obwohl die Sprache nichts damit zu tun hat."

Gerade macht sie einen Ukrainisch-Schreibkurs bei einer ukrainischen Schriftstellerin: "Das ist super anstrengend für mich. Weil ich nie wirklich Ukrainisch gesprochen habe und jetzt seit Jahren nicht mehr dort lebe. Aber ich suche jetzt meine Identität."

In der Ukraine bleiben, so lange es geht

Katerinas Suche nach einer neuen Sprache, auf der sie schreiben kann, macht deutlich, worum es bei diesem Krieg geht: Es geht um Identitäten. Es geht um die Frage: Wie will ich leben, in welchem System? Im diktatorischen Willkürsystem Putins oder in einer Demokratie, die vielleicht noch nicht perfekt ist, aber in der ich die eigene Meinung sagen darf?

Katerina und Yevgenia haben ihre Entscheidung getroffen. Man merkt ihnen an, dass sie stolz sind, Ukrainerinnen zu sein. Yevgenia trägt ihren Optimismus um sich – wie ein Schutzschild. Aber sie sagt auch ganz klar: "Falls Russland die Ukraine doch einnimmt, würde ich wieder fliehen". Unter russischer Herrschaft zu leben wäre ihr unmöglich.

Sie schätzt, dass von den 40 Millionen Ukrainern in diesem Fall etwa die Hälfte gehen würden. "Und das wäre katastrophal", sagt sie. Für die Ukraine und für die Länder, die die Flüchtenden aufnehmen würden. "Ich weiß, dass das Gute nicht immer gewinnt", sagt sie nachdenklich und ihr Optimismus klingt zum ersten Mal im Gespräch nicht durch. Aber solange es geht, will sie mit ihrer Familie in Odessa bleiben.

Neuer BR-Podcast: Die Entscheidung. Politik, die uns bis heute prägt

Mehr über Yevgenia, Katerina und die Frage, wie es die ukrainische Gesellschaft schafft, dem russischen Angriff zu trotzen, erfahren Sie in unserem neuen BR-Podcast "Die Entscheidung. Politik, die und bis heute prägt". Darin gehen wir in vier Folgen der Frage auf den Grund, welche Verantwortung der Westen für diesen Krieg hat, welche Rolle die Entscheidung spielte, die Ukraine bisher nicht in die Nato aufzunehmen und was die Ukraine braucht, um auch in Zukunft ein freies und selbstständiges Land zu sein.

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