Ob er verzeihen kann, diese schwere Frage stellt sich Pfarrer Kilian Semel immer wieder. Trotz seiner Missbrauchserfahrung wird er katholischer Priester – und verdrängt lange, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist. Doch dann kommt alles wieder hoch – 2010, als Missbrauchsfälle an katholischen Internaten Schlagzeilen machen.
Auch im oberbayerischen Kloster Ettal. Kilian Semel ist damals Pfarrer im Nachbarort Bad Kohlgrub. Er erinnert sich, wie er nachts schlaflos dalag: "Plötzlich ging die innere Schublade auf, die ganz tief vergraben war." Die Bilder seines eigenen Missbrauchs, den er zwischen seinem neunten und 13. Lebensjahr als Ministrant erlebt hatte, kamen alle an die Oberfläche. "Das hat mich damals total fertig gemacht."
"Kann ich als Priester in dieser Kirche weiter meinen Dienst tun?"
Kilian Semel ist überfordert. Er ist Missbrauchsopfer und als Priester Teil der Kirche, die mit Schuld trägt, weil sie Täter schützte. Er ist innerlich zerrissen. Und dann auch noch das: Der Bruder seines Täters meldet sich bei ihm und berichtet von dessen Tod. Ob er nicht die Grabrede halten mag bei der Beerdigung? Er sei doch der Lieblings-Ministrant des Verstorbenen gewesen. "Das hat mich sehr hin und her geschüttelt und auch wirklich gequält, soll ich oder soll ich nicht?" Schließlich stimmt er zu und hält die Beerdigungsansprache im Trauergottesdienst.
Eine nette Grabrede für den eigenen Täter: Kilian Semel stürzt daraufhin in eine tiefe Krise, in der er sich existenzielle Fragen stellt. "Kann ich mit all dem, was ich erlebt habe, weiterhin als Priester in dieser Kirche meinen Dienst tun?" Eine Psychotherapie hilft ihm, Klarheit zu gewinnen und zu erkennen: "Wenn ich all das aufgebe, was mir im Leben wichtig ist, was mir Kraft gibt, mich herausfordert, was mir Freude macht, was auch mein Glaube ist, dann würde ich dem Täter nochmal Macht über mich geben."
"Ich kann niemandem verordnen, dass er verzeihen muss"
Genau das will er nicht und nimmt deshalb ein Angebot an: Er wird Seelsorger für Betroffene von Missbrauch und Gewalt im Erzbistum München und Freising. Seit 2022 leitet er die entsprechende Beratungsstelle der Diözese. Kilian Semel setzt sich dafür ein, dass die Kirche den Missbrauch in den eigenen Reihen aufarbeitet. Und er hat eine Selbsthilfegruppe gegründet, mit anderen betroffenen Priestern. Gemeinsam waren sie noch letztes Jahr bei Papst Franziskus. Für Kilian Semel ein heilender Moment: "Er war ein Zuhörender und man hat auch gespürt, wie sehr ihn das auch bewegt und berührt."
Die Menschen, die er selber berät, sind oft sehr gläubig und wollen von ihm als Pfarrer wissen: Muss ich meinem Täter verzeihen? Eine klare Antwort hat Kilian Semel dann nicht parat: "Ich kann niemandem verordnen, dass er verzeihen muss." Er bewundere Betroffene, die leben können, was Christen im "Vater unser" beten: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."
Verzeihen – eine ganz persönliche Entscheidung
Er selber kann es noch nicht, sagt Kilian Semel, aber im Gebet sage er immer wieder: "Lieber Gott, kümmere du dich jetzt um den, in deiner großen unendlichen Liebe und Barmherzigkeit." Am Ende bleibt die Frage nach einem möglichen Verzeihen auch für einen Priester eine ganz persönliche Entscheidung.
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