Immer wenn der innere Druck zu stark wurde, hat sich Carina Melnik mit einer Rasierklinge Schnitte in die Arme geritzt. Sieben Jahre lang hat sie das so gemacht. "Es ist ja bei jedem anders, warum er sich selbst verletzt. Bei mir war es hauptsächlich, dass ich mich spüre. Dass der Druck irgendwo hingeht und ich runterkomme von dieser Anspannung, die ich gerade habe. Deshalb hat es auch nicht weh getan."
Selbstverletzungen: Hilferufe der Seele
Dass die 25-Jährige eine Verletzung der eigenen Haut als Erleichterung empfunden hat, lässt erahnen, wie viel stärker der Schmerz gewesen sein muss, den sie jahrelang mit sich herumtrug. Carina wurde im Alter von elf Jahren missbraucht. Warum sie irgendwann anfing, sich immer wieder zu verletzen, hat sie zunächst selbst nicht verstanden, irgendwann wusste sie nur: Jetzt brauche ich Hilfe.
Selbstverletzungen gelten als Symptom einer psychischen Erkrankung. Die Betroffenen fühlen sich übermannt von ihren Depressionen, Ängsten oder Zwängen. Um die Kontrolle scheinbar zurückzuerlangen, fügen sie sich Schnitte mit Messern, Klingen oder Nadeln zu – umgangssprachlich spricht man deshalb auch davon, dass sie sich "ritzen".
Tattoos als symbolischer Abschluss
Auch Carina Melniks Arme sind von unzähligen feinen Narben übersät – die man heute aber nur noch sieht, wenn man ganz genau hinschaut. Fast alle sind nämlich von Tattoos überdeckt. Der Hautschmuck ist für sie auch eine Art Abschluss. Denn mit psychologischer Hilfe hat sie nach und nach gelernt, ihr selbstverletzendes Verhalten einzustellen.
Ähnliche Wege haben auch die anderen Menschen hinter sich, die in der Ausstellung "Überwunden – Tattoos auf den Narben der Vergangenheit" in der Bayreuther Stadtbibliothek zu sehen sind. Sie alle haben sich kunstvolle Motive auf die Narben ihrer Schnittwunden tätowieren lassen, sogenannte Cover-Ups. Damit sie äußerlich weniger sichtbar sind, aber auch als Zeichen ihres persönlichen Neuanfangs.
Lange Leidensweg hinter den Narben
Der Tätowierer "Bluebird" aus Lüneburg hat das Projekt initiiert. Bürgerlich heißt er Daniel Bauermeister. Er bekommt immer wieder Anfragen, Cover-Ups zu tätowieren, und kam auf diesem Weg mit vielen Betroffenen ins Gespräch. "Es hat gezeigt, wie wichtig das ist und wie viel Nachfrage am Ende wirklich da ist."
Die Bilder und der Film, die daraus entstanden sind, sollen für andere Betroffene "eine Stütze sein" – ihnen zeigen, dass es Auswege gibt. Bauermeister hofft aber auch, dass sie ein Denkanstoß für die Gesellschaft sind. Denn Menschen mit Selbstverletzungsnarben werden oft schräg angesehen oder nicht ernst genommen. Dabei stehen dahinter meist lange Leidenswege.
Das Thema aus der Tabuzone holen
Die Geschichten hinter solchen Narben zu zeigen, war auch das Ziel der Stadtbibliothek Bayreuth. "Es nimmt ein bisschen dieses Tabu, diese Brandmarkung von Menschen, die sich vielleicht schneiden oder ritzen", sagt die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, Monika Pellkofer, die die Ausstellung im Rahmen der Aktionswochen Gesundheit nach Bayreuth geholt hat. "Man sieht, da steckt eine Erkrankung oder ein Weg oder ein Trauma dahinter."
Carina Melnik ist froh, dass sie an dem Projekt "Überwunden" teilnehmen konnte. Gesehen, ernst genommen und nicht verurteilt zu werden, bedeutet ihr viel – genau wie die Tattoos, die ihre Narben aus der Vergangenheit inzwischen bedecken. "Auch, weil die Leute nicht mehr auf meine Narben schauen", sagt sie. "Wenn ich jetzt im T-Shirt durch die Stadt laufe, dann sehen sie halt ein tätowiertes Mädchen. Aber die Narben rücken in den Hintergrund."
Die Ausstellung wird noch bis zum 7. November im RW21 Stadtbibliothek Bayreuth gezeigt. Sie ist Teil der Aktionswochen Gesundheit in der Region Bayreuth 2024 zum Thema: Kontakt: Haut – berührend.vernetzend.faszinierend.
Wenn Sie Informationen oder Hilfe zum Thema Selbstverletzung benötigen, können sie hier Hilfe finden:
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