Faarah Mohammed (Name geändert, Anm. d. Red.) beginnt 2019 eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem Modegeschäft. Der Somalier meistert die Hürden gut. Doch dann fällt er dreimal durch die Abschlussprüfung – aus Prüfungsangst. Zudem belasten ihn Schlafstörungen, Albträume und Angstzustände.
Er sucht Hilfe und findet schließlich einen Therapieplatz bei Refugio München, einem Behandlungs- und Beratungszentrum für traumatisierte Geflüchtete. Die Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. Seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein.
Hunger, Zwangsarbeit und Untergang des Flüchtlingsbootes
In Somalia herrscht seit fast 20 Jahren Bürgerkrieg. Faarah Mohammed muss mit 13 Jahren aus seiner Heimat fliehen: Milizen überfallen sein Dorf, töten seinen Vater – direkt vor seinen Augen. Noch unter Schock begibt er sich auf die Flucht, ganz auf sich allein gestellt, über die Sahara nach Libyen. Er leidet Hunger, Durst und in ständiger Todesangst muss er mit ansehen, wie andere Flüchtlinge vor Erschöpfung sterben.
"Das habe ich auch nur gerade so durchgehalten. Ich habe mir dann gesagt: Entweder stirbst du oder lebst du." Er überlebt. In Libyen muss er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für wenig Lohn Zwangsarbeit auf dem Bau und Plantagen leisten – fast zwei Jahre lang. Dann die Erlösung, er hat genug Geld für Schleuser.
Eingepfercht auf einem überfüllten Schiff erlebt er den nächsten Schock: Das Flüchtlingsboot geht unter. Kinder, Schwangere, Menschen, die er auf seinem Weg kennenlernte, ertrinken vor seinen Augen. Faarah Mohammed hat Glück. Die italienische Küstenwache rettet ihn. Schwer traumatisiert kommt er nach mehr als zwei Jahren Flucht in Bayern an, wird mit 15 Jahren in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, macht seinen qualifizierten Hauptschulabschluss.
Bis zu 30 Prozent der Flüchtlinge behandlungsbedürftig
Verschiedene Studien – unter anderem eine Studie der Universität Leipzig – belegen: Rund die Hälfte der Flüchtlinge haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Krieg, Folter, Tod und schlimme Erlebnisse auf der Flucht können Depressionen oder Traumafolgestörungen auslösen. Nicht alle benötigen eine Behandlung, manche haben nur milde Symptome. Bis zu 30 Prozent aber sind laut Schätzungen behandlungsbedürftig.
Psychische Erkrankungen sollten möglichst früh erkannt werden, erklärt Professor Thomas Ehring vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München: "Denn je früher man sie erkennt, wenn sie noch nicht chronifiziert und noch nicht stark ausgeprägt sind, desto schneller kann man natürlich auch intervenieren."
In Pilotprojekten in den Ankerzentren Oberbayern und Unterfranken versucht man sogenannte besonders vulnerable Schutzbedürftige durch psychologische Tests frühzeitig zu erkennen. Doch systematisch angewandt wird diese Früherkennung in Bayern nicht. Es bleibt bei Pilotprojekten.
Wissenschaftler fordert mehr spezialisierte Versorgungszentren
Zudem gebe es anschließend nicht genug spezialisierte Versorgungszentren für behandlungsbedürftige Flüchtlinge, moniert Thomas Ehring. Die Folge: Stark psychisch Belastete könnten ohne Hilfe nur schwer am alltäglichen Leben teilhaben. Denn Sprachkurse absolvieren und täglich zur Arbeit gehen – das kann für Traumatisierte zu einer großen Herausforderung werden. Der Kopf müsse erst frei von schlimmen Erlebnissen werden, damit sie sich gut und schnell integrieren könnten, erklärt Psychologe Ehring.
Geflüchtete in dieser großen Zahl zu behandeln, ist aber aus seiner Sicht unrealistisch. Auch niedergelassene Therapeuten hätten nur wenig freie Kapazitäten. Daher müsse man über niedrigschwellige Angebote nachdenken. Eine Möglichkeit: Gruppenangebote, die nicht von professionell ausgebildeten Personen durchgeführt werden, sondern von Personen, die den Kulturkreis gut kennen. Studien zeigten, dass die psychische Belastung dadurch vermindert werden könne, so Ehring.
350.000 Euro vom Freistaat für psychosoziale Projekte
Trotzdem sieht der Wissenschaftler den Staat in der Pflicht, sich um diese besonders vulnerable Gruppe mehr zu kümmern. Er hält es für eine sehr gefährliche Strategie, Flüchtlinge nicht gut zu versorgen oder gar die Gelder zu kürzen. Die daraus resultierenden Probleme schaffe man sich so selber, betont Thomas Ehring.
Geflüchteten frühzeitig helfen – dazu verpflichtet die sogenannte EU-Aufnahmerichtline Bayern rechtlich. Seit Langem fordern Experten und auch die bayerischen Grünen mehr in den Ausbau von psychosozialen Zentren zu investieren. Warum nimmt der Freistaat nicht mehr Geld in die Hand? Innenminister Joachim Hermann antwortet schriftlich auf BR-Anfrage: "Mit der Förderung von jährlich mehr als 350.000 Euro unterstützt das Innenministerium zwei Projekte (…) aus dem psychosozialen Bereich finanziell (…) Mangels zur Verfügung stehender Haushaltsmittel sind hier keine weiteren Förderungen möglich."
Ohne Abschluss schlechtere Chancen auf Arbeitsmarkt
Dass sich eine Therapie auszahlen kann, auch für den Freistaat und seine Wirtschaftsleistung, wird bei der Förderhöhe von psychosozialen Projekten offenbar weniger beachtet. Und so bleibt es weiter ein Glückspiel, ob man als Flüchtling einen Therapieplatz erhält oder nicht.
Der Somalier Faarah Mohammed kann jedenfalls erst durch seine zweijährige Psychotherapie wieder richtig am Leben teilhaben. Er hat mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft und sein Arbeitgeber stellt ihn unbefristet an – auch ohne einen Abschluss als Einzelhandelskaufmann. Ein Erfolg.
Aber ein Wehmutstropfen bleibt: Wäre die posttraumatische Belastungsstörung früher erkannt worden, hätte der Somalier vielleicht seine Prüfung schaffen können. Ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung stehen die Chancen für den 25-Jährigen auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlechter.
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