Supermarkt, Arbeitsplatz, Kinderbetreuung - das soll in der 15-Minuten-Stadt innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein.
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Supermarkt, Arbeitsplatz, Kinderbetreuung - das soll in der 15-Minuten-Stadt innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein.

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"15-Minuten-Städte": Von der Vision zur Verschwörungstheorie

"15-Minuten-Städte": Von der Vision zur Verschwörungstheorie

Um die Umwelt zu schonen und Städte lebenswerter zu machen, entwickelten Stadtplaner das Konzept der "15-Minuten-Stadt". Verschwörungsideologen vermuten dahinter "moderne Gefängnisse" und missbrauchen die Stadt Oxford als Beispiel. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Darum geht es:

  • Stadtplaner entwickelten bereits 2016 die Vision von sogenannten 15-Minuten-Städten
  • Diese sollen die Umwelt schonen und dem Klimaschutz dienen
  • Reichweitenstarke Accounts im Internet behaupten, dass dadurch Menschen in Stadtteilen eingesperrt werden sollten
  • Die britische Stadt Oxford gerät ins Visier, weil sie ein neues Verkehrskonzept ausprobieren möchte, um Staus und Lärm zu vermeiden. Mit einer 15-Minuten-Stadt hat das Konzept jedoch nichts zu tun.

Lange Wege von Stadtbewohnern in die Arbeit oder zum Arzt kosten Zeit und Nerven.Vor allem dann, wenn die Bahn ausfällt oder Stau auf den Straßen herrscht. Stadtplanerinnen und Stadtplaner wollen dem entgegenwirken, gleichzeitig die Umwelt schonen und so zum Klimaschutz beitragen.

Der Franzose Carlos Moreno hat dafür das Konzept einer "15-Minuten-Stadt" entworfen. Moreno ist Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne-Universität. Er forscht dazu, wie Städte besser gestaltet werden können, um die Grundbedürfnisse ihrer Bewohner zu decken.

Die Idee hinter der "15-Minuten-Stadt": Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt sollen in maximal 15 Minuten die wichtigsten Anlaufstellen des Alltags erreichen können, also die Arbeitsstelle, den Lebensmittelmarkt, einen Arzt, die Schule oder den Kindergarten. Und das zu Fuß oder mit dem Fahrrad.

Die britische Stadt Oxford will unterdessen gegen zu viel Autoverkehr in der Stadt vorgehen - ein Vorhaben, das mit Morenos Konzept von der "15-Minuten Stadt" nichts zu tun hat, von Verschwörungsideologen aber damit vermischt wird. Diese sehen im Oxforder Vorgehen einen Präzedenzfall und behaupten nun, Menschen sollten so in Zonen festgehalten und ihrer Freiheitsrechte beraubt werden. Weil der Pariser Professor Moreno und seine Idee vom Weltwirtschaftsforum (WEF) unterstützt werden, glauben sie zudem an eine große Verschwörung. Der #Faktenfuchs zeigt auf, dass es dafür keine Belege gibt.

Um was geht es bei der 15-Minuten-Stadt genau?

Carlos Moreno skizziert seine Idee von der 15-Minuten-Stadt 2021 im Journal "Smart Cities" : Er stellt sich Stadtviertel vor, in denen nur so viele Menschen leben, dass alle Zugang zu Ärzten, Apotheken, Supermärkten oder Kindergärten haben. So soll niemand länger als 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sein, um die wichtigsten Dinge im Alltag zu erreichen. Moreno beschreibt Orte, die seiner Meinung nach effektiver genutzt werden: Schulhöfe, die nach Schulschluss als Parks dienen, oder Kinos, die tagsüber Cafés sind.

Die Digitalisierung könne eingesetzt werden , um von zuhause aus oder in Co-Working-Spaces zu arbeiten und so den Arbeitsweg zu verkürzen oder gar zu vermeiden. Es ist eine Vision einer dezentralisierten Stadt, die unabhängig vom Auto gedacht ist. Denn die Herausforderungen, mit denen Bewohnerinnen und Bewohner von Städten konfrontiert sind, seien groß: Das zeige sich laut Moreno nicht nur nach Ausbruch des Coronavirus, sondern auch durch die Folgen des Klimawandels.

Wie Moreno in einer Mail an den #Faktenfuchs schreibt, müssten Städte eine wichtige Rolle in der Bekämpfung des Klimawandels spielen, da sich in ihnen "umweltschädliche Aktivitäten und CO2-intensive Lebensstile" konzentrierten. Hinzu komme eine wirtschaftliche Ungleichheit in Städten, die zu sozialer Ausgrenzung führe, sagte Moreno 2022 in einem Video-Interview.

Deswegen müssten Städte laut Moreno in Zukunft anders aufgebaut werden: Aus ökologischer Sicht lebenswert, aus ökonomischer Sicht lebensfähig und auf sozialer Ebene gerecht. "Es geht darum, eine Stadt zu erschaffen, in der die Menschen leben wollen", schreibt Moreno in seiner Mail.

Wo wird die 15-Minuten-Stadt bereits diskutiert?

Eine bekannte Befürworterin dieser Idee ist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Sie hat die 15-Minuten-Stadt in ihr Wahlprogramm aufgenommen, in Paris wird das Konzept gerade umgesetzt.

Auch in anderen europäischen Städten spielt das Konzept eine Rolle – unter anderem in Kopenhagen, Wien, Berlin oder Hamburg. Außerdem unterstützt die "C40 Climate Leadership Group", ein Netzwerk aus Bürgermeistern von 100 Städten weltweit, Städte dabei, das 15-Minuten-Konzept umzusetzen. Das Netzwerk fokussiert sich auf die Bewältigung der Klimakrise.

Verschwörungstheoretiker behaupten: Menschen sollen eingesperrt werden

Seit Anfang 2023 beobachtet Carlos Moreno, dass seine Zukunftsvision Ziel von Falschbehauptungen wird, schreibt er auf #Faktenfuchs-Anfrage. In Internet-Videos und Nachrichten bei Telegram wird behauptet, die 15-Minuten-Städte seien dazu da, um Menschen in bestimmte Bezirke einzusperren und in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken.

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Behauptungen auf Twitter

So ist ein YouTuber der Meinung, dass diese angeblichen Eingriffe in die Freiheitsrechte derzeit "ganz offen diskutiert" werden würden. In verschiedenen Tweets, Telegram-Posts, Artikeln und YouTube-Videos wird außerdem behauptet, dass die Stadt Oxford in Südengland in sechs verschiedene Zonen aufgeteilt werde. Die Einwohner der jeweiligen Zonen müssten sich “bewerben”, um Freunde in anderen Zonen mit dem Auto zu besuchen. Ein YouTuber fragt anschließend: “Sollen wir jetzt in diesem 15-Minuten-Radius komplett eingesperrt werden?”

Moreno schreibt dazu an den #Faktenfuchs: "Diese Behauptungen sind Lügen und beruhen auf keinerlei stichhaltigen Argumenten." Hintergrund für diese Behauptungen sind die in Oxford geplanten Verkehrsfilter, die den Autoverkehr in der Stadt auf bestimmten Straßen minimieren sollen. Diese haben aber mit einer 15-Minuten-Stadt nichts zu tun.

Die Verschwörungstheorien rund um die 15-Minuten-Städte hätten aber dazu geführt, dass Mitglieder der zuständigen Verwaltungen beschimpft wurden und Politikerinnen und Politiker hätten "zahlreiche Anrufe und Nachrichten von besorgten Anwohnern" erhalten, heißt es in einer Pressemitteilung der Stadt.

Wieso die britische Stadt Oxford in den Fokus geriet

In Oxford geht es der Stadtverwaltung darum, den Verkehr zu reduzieren, damit unter anderem Busse schneller von einem Ort zum nächsten kommen und nicht im Verkehr stecken bleiben. Dafür hat sich die Stadt für sogenannte Verkehrsfilter entschieden und will dieses Konzept im Jahr 2024 für sechs Monate testen.

Bei den Verkehrsfiltern handelt es sich um Kameras, die automatisch Nummernschilder erfassen. So können sie erkennen , welche Autos auf einer Straße fahren dürfen und welche nicht. Diese Kameras werden auf sechs Straßen in der Stadt aufgestellt und erfassen "sehr kurze Abschnitte" der Straße, nur ein paar Meter, erklärt die Stadtverwaltung auf ihrer Webseite. An 100 Tagen im Jahr können Bürger von Oxford eine Genehmigung beantragen, um diese Straßenabschnitte zu befahren. Fahren sie ohne Genehmigung durch, riskieren sie ein Bußgeld. Abseits dieser Abschnitte können sich Autofahrer frei bewegen - ohne Genehmigung.

Grundsätzlich betreffen die Einschränkungen nur den Individualverkehr. Busse, Taxen, Mopeds, Fahrräder, Lieferwagen und andere dürfen die Verkehrsfilter demnach jederzeit passieren. Es soll auch Ausnahmen für Menschen mit Behinderung, Rettungsdienste und Gesundheits- und Pflegepersonal geben.

Die Stadt reagierte auf die Vorwürfe der Verschwörungsideologen und ordnete die Situation ein: "Mit den Verkehrsfiltern werden die Einwohner weiterhin jederzeit in alle Teile der Stadt fahren können - aber in Zukunft müssen sie zu den Zeiten, in denen die Filter in Betrieb sind, möglicherweise eine andere Route nehmen."

Verkehrsfilter hängen nicht mit der 15-Minuten-Stadt zusammen

Die geplanten Verkehrsfilter hängen laut der Stadt Oxford nicht mit der Vision einer 15-Minuten-Stadt zusammen. Durch "Fehlinformationen im Internet wurden die Verkehrsfilter mit dem Vorschlag der 15-Minuten-Stadt verknüpft", heißt es von der Stadt. Diese Fehlinformationen sollten demnach suggerieren, dass die "Verkehrsfilter dazu verwendet werden, die Menschen auf ihr lokales Gebiet zu beschränken. Das ist nicht wahr." Dennoch plant die Stadt Oxford in ihrem "Ortsplan 2040" 15-Minuten-Nachbarschaften einzuführen.

Moreno: Konzept solle Bewegung fördern, nicht verhindern

Auch Moreno bekräftigt in seiner Mailantwort: "Bei der 15-Minuten-Stadt geht es nicht darum, die Bürger einzusperren oder einzuschränken, sondern ihnen Zeit zu verschaffen. Es geht nicht darum, Bewegung zu verhindern, sondern darum, jedem die Wahl zu lassen, sich zu bewegen." Sein Konzept sei ein Vorschlag für "glückliche Nähe", nicht für ein Gefängnis.

Verschwörungstheorien schüren Misstrauen gegen staatliches Handeln

Die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl verfolgt die Pläne für 15-Minuten-Städte selbst sehr aufmerksam, denn in ihrer Heimatstadt Wien gibt es ähnliche Pläne, die Stadt umzugestalten. Für Strobl sei der Begriff "15-Minuten-Städte" eigentlich ein "sehr positiver" gewesen. Ihr sei aufgefallen, sagt sie im Interview mit dem #Faktenfuchs, dass der Begriff "ganz dystopisch gewandelt worden ist", vom Positiven ins Negative. Manche würden nun damit verbinden, dass „die Leute dann eingesperrt werden in Zonen“. Der Begriff sei ihr zufolge „komplett ins Gegenteil gewandelt“ worden, obwohl die Falschbehauptungen ausführlich widerlegt wurden, unter anderem von der Stadt Oxford.

Doch Fakten würden Personen, die in einer Verschwörungsblase leben, gar nicht mehr erreichen.

Verschwörungsideologen gehe es darum, mit derartigen Mythen "auf ein tief sitzendes Misstrauen abzuzielen, auf ein Misstrauen, das auch immer mehr anwächst", meint Strobl. Eine Skepsis, die sich gegen staatliches Handeln richte, aber auch gegen Medien und schlussendlich auf die Destabilisierung der Demokratie abziele.

Dabei würden auch gezielt andere Bilder aus dem Kontext gerissen. Beispielsweise erläutert die Stadt Oxford, dass keine physischen Barrieren wie Straßensperren als Verkehrsfilter eingesetzt werden. Wenn im Zuge dieser Diskussion dann aber plötzlich ein Bild auftauche, das einen Absperrzaun zeigt, "dann könnte jemand aus der Verschwörungsblase behaupten: 'Seht her, da ist der Beweis für die Barrieren!'", so Natascha Strobl. Dabei sei es völlig irrelevant, ob dieses Bild überhaupt in Oxford aufgenommen worden sei oder nicht.

Hinterfragt würde das in der Blase der Verschwörungsanhänger nicht – man könne sich dort auch überhaupt nicht mehr darauf einigen, was eigentlich Fakten seien. Alles ist laut Strobl immer ein Beweis für eine Verschwörung.

WEF gilt oft als Beleg für vermeintliche Verschwörung

Ein rotes Tuch für Verschwörungstheoretiker ist das Weltwirtschaftsforum (WEF). Weil das WEF die Idee der 15-Minuten-Städte mit Artikeln und kurzen Videos unterstützt, geriet die Schweizer Stiftungs- und Lobbyorganisation ins Visier verschiedener Verschwörungsanhänger. In vielen ihrer Videos zum Thema 15-Minuten-Städte ist Klaus Schwab, der Vorsitzende des WEF, im Teaser-Bild zu sehen, eine bekannte Feindfigur der Verschwörungstheoretiker-Szene. Damit wird angedeutet, Schwab stehe als eigentlicher Strippenzieher im Hintergrund der Idee.

Das Interesse des WEF reiht sich laut Moreno jedoch in das Interesse vieler anderer Organisationen ein, wie dem Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, UN-Habitat, oder dem Netzwerk "United Cities and Local Governments", einem weltweiten Verband von Städten und Gemeinden.

Sie würden das Konzept durch Artikel, Pressemitteilungen und Stadtentwicklungspläne unterstützen und dem Konzept so "eine neue Glaubwürdigkeit" geben, schreibt Moreno an den #Faktenfuchs. Trotz mehrmaliger Nachfrage antwortete das Weltwirtschaftsforum nicht auf die Fragen des #Faktenfuchs zu dieser Unterstützung.

Strobl: "Es geht darum, das Böse zu personalisieren"

Für Strobl ist das Betonen und Umdeuten dieser Unterstützung kaum verwunderlich: "Der WEF ist mittlerweile quasi zum Zentrum von Verschwörungsdenken geworden." Dabei gehe es überhaupt nicht um Klaus Schwab oder um das Weltwirtschaftsforum an sich, sondern darum, das Böse wie in einem Märchen zu personalisieren: "Klaus Schwab könnte sich hinstellen und sagen: ‚Heute ist ein schöner Tag‘ und das wäre auch wieder ein angeblicher Beleg für irgendetwas, beispielsweise: 'Aha, ihr könnt also das Wetter beeinflussen!'" Klaus Schwab steht auch im Zentrum der Verschwörungstheorie zu "The Great Reset".

Ungeachtet dessen – das ist Strobl wichtig zu betonen – sei Kritik am WEF durchaus legitim. Beispielsweise in Bezug auf das jährliche WEF-Treffen in Davos und die Frage, wer dort mitdiskutieren dürfe und wer nicht. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem WEF seien Verschwörungsideologien aber nicht geeignet, denn in diesen werde das WEF eindimensional dargestellt. Und wenn - Stichwort Märchen - das Böse einfach böse ist, dann könne man auch nicht differenziert darüber reden, so Strobl.

Fazit

Stadtplaner entwickelten das Konzept der 15-Minuten-Stadt, bei dem es darum geht, die Wege in Städten zu verkürzen, um den Klimawandel und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Verschwörungsideologen vermischen das Konzept mit einer Idee der Stadt Oxford, die 2024 sogenannte Verkehrsfilter testweise einsetzen möchte, um den Verkehr zu reduzieren.

Seit Anfang des Jahres verbreiten sich dazu Falschbehauptungen in den sozialen Netzwerken. Es gibt keinerlei Belege dafür, dass es sich bei diesen Konzepten um “moderne Gefängnisse” handelt. Bei der 15-Minuten-Stadt geht es laut Stadtplanern nicht darum, Bewegung einzuschränken, sondern neue Formen der Bewegung zu fördern und die Stadt lebenswerter zu machen.

Laut der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl versuchen Verschwörungsideologen mit derartigen Mythen, auf ein tiefsitzendes Misstrauen gegen staatliches Handeln abzuzielen.

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