Leere Tablettenblister sind übereinander gestapelt (Symbolbild)
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Medikamente gegen Depressionen werden von immer mehr Menschen eingenommen. Fachleute fordern, dass Therapien überdacht werden (Symbolbild)

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Antidepressiva: Kritik an Verschreibungspraxis wächst

Antidepressiva: Kritik an Verschreibungspraxis wächst

Immer mehr Menschen nehmen Psychopharmaka, etwa Medikamente gegen Depressionen. Doch in Fachkreisen mehrt sich die Kritik an der Verschreibungspraxis von Antidepressiva – auch wegen der Nebenwirkungen und Langzeitfolgen.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Monika Spahn ist Anfang 20, als sie die Diagnose Depression erhält. Das ist rund 30 Jahre her. Sie hat das Leben damals noch vor sich. Ein Leben, das sie heute, mit 51, als zerstört ansieht.

Spahn bezieht eine Erwerbsminderungsrente. Ihr Haus konnte sie viele Jahre nicht verlassen. Eine Familie zu gründen, blieb ihr verwehrt. Verantwortlich macht sie zu einem Großteil ein Antidepressivum. Es wurde ihr einst verschrieben, mit dem Hinweis, dass es keine andere Möglichkeit gebe, ihre Depression zu behandeln, außer "lebenslang" Medikamente einzunehmen.

Absetzen kann zum Problem werden

Die 51-Jährige leidet heute darunter. Sie sagt, ihre Depression sei trotz der Medikamente nie ganz weg gewesen. Zwölf "Kaltentzüge" habe sie hinter sich, so nennt sie die Versuche, das Medikament abzusetzen. Jedes Mal gingen sie mit massiven körperlichen Symptomen einher und führten dazu, dass sie das Medikament wieder nahm. Sie ist nicht allein mit dieser Situation. Das bestätigen Fachkreise. Längst ist bekannt, dass das Absetzen entsprechender Medikamente zum Problem werden kann.

Dennoch werden immer mehr Antidepressiva eingenommen. So ist die Zahl der verordneten Tagesdosen an Antidepressiva in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen. Lag sie für alle gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2012 noch bei rund 1,3 Millionen verschriebenen Tagesdosen, waren es laut dem "Wissenschaftlichen Institut der AOK" (WIdO) zehn Jahre später rund 1,8 Millionen.

Werden mehr Erkrankungen erkannt?

Liegt das daran, dass immer mehr Krankheiten erkannt werden und Menschen deshalb besser geholfen wird? Dieser These widerspricht der Psychologieprofessor Reinhard Maß im BR-Interview. Auch der Facharzt für Psychiatrie, Professor Tom Bschor, der für die Arzneimittelkommission an der "Nationalen VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression" mitgeschrieben hat, geht davon aus, dass die Zahl der Erkrankten nicht wesentlich angestiegen ist. Den Expertenmeinungen zufolge nehmen also mehr Menschen Antidepressiva, aber es leiden nicht immer mehr Menschen an Depressionen.

Zu beobachten ist auch, dass die Zahl der Antidepressiva-Verordnungen gestiegen ist – und zwar weltweit – auch weil diese Medikamente, anders, als der Name es vermuten lässt, nicht nur gegen Depressionen, sondern auch bei Ängsten oder Zwängen eingesetzt werden. Laut OECD haben sich diese Verschreibungen seit dem Jahr 2000 weltweit fast verdoppelt. Deutschland liegt noch unter dem OECD-Schnitt, aber auch hier steigt die Zahl.

Fachklinik geht anderen Weg

Maß geht in der Oberbergklinik Marienheide im Bergischen Land einen anderen Weg. Als Psychologieprofessor im Leitungsteam einer psychiatrischen Station bildet er eher die Ausnahme, ebenso wie sein therapeutisches Konzept. Er behandelt Menschen, die an schweren Depressionen leiden, komplett ohne Medikamente – und das seit Jahren.

Wer mit Antidepressiva auf seine Station kommt, dem empfiehlt er das Absetzen. Maß verweist auf "allerbeste Erfahrungen" damit. Er sagt, eine psychotherapeutische Behandlung ohne Antidepressiva sei den Daten zufolge sogar erfolgreicher.

Kritiker: Therapie zielt auf kurzfristige Erfolge

Ähnlich äußert sich auch Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der oberbayerischen Schön Klinik Roseneck. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist er kein absoluter Medikamentengegner, steht Psychopharmaka – vor allem bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen – aber eher kritisch gegenüber. Er schätzt, dass 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Ängsten, Depressionen oder Essstörungen schon mit Medikamenten in seine Klinik kommen – viele davon mit Medikamenten, die gar nicht für ihr Alter zugelassen seien.

In der Psychopharmakotherapie werde zu häufig auf kurzfristige Erfolge gezielt, sagt der Professor. Seinen Erfahrungen und Studien zufolge ist Psychotherapie auf lange Sicht gesehen sehr viel nachhaltiger als die bloße Einnahme von Medikamenten, weil dadurch echte Verhaltensänderungen angestoßen würden.

So stünden Menschen, die eine Psychotherapie gemacht hätten, langfristig besser da, als diejenigen, die nur mit Antidepressiva behandelt würden. Denn: Wenn jemand eine Psychopharmakotherapie gemacht habe und die Medikamente dann absetze, habe er nie gelernt, Schwierigkeiten zu bewältigen, sagt Voderholzer. Zumal das Absetzen sehr schwierig sein kann, wie Monika Spahn erlebt hat.

Liste der Nebenwirkungen ist lang

Laut der "Nationalen VersorgungsLeitlinie" ist sowohl die Liste der Absetzprobleme als auch die Liste der Nebenwirkungen lang. Diese reicht – je nach Wirkstoff – von Mundtrockenheit, Schlafproblemen und sexuellen Funktionsstörungen bis hin zu einem erhöhten Suizidrisiko.

Psychiater wie Jann Schlimme, der in seiner Berliner Praxis Menschen beim Absetzen von Medikamenten unterstützt, fordern deshalb mehr Aufklärung, Sensibilität und Begleitung beim Verschreiben von Antidepressiva.

Absetzen wird "meistens vergessen"

Das aber passiert offenbar nicht immer, wie selbst in der "Nationalen VersorgungsLeitlinie" nachzulesen ist. Patienten und Patientinnen würden die Medikamente oftmals weiter einnehmen – allein schon, weil niemand ihre Wirkung überprüfe, heißt es dort. Eine Therapie trotz Nichtansprechens fortzuführen, ist laut der Leitlinie ethisch nicht vertretbar.

Verschrieben wird dennoch weiter, auch weil das Verordnen einfacher geworden sei, wie Psychologieprofessor Maß kritisiert. Ihm zufolge wird das Absetzen dabei "meistens vergessen".

Patientin geht eigenen Weg

Und genau das ist das Problem von Patientinnen wie Monika Spahn. Sie geht mittlerweile ihren eigenen Weg. Inzwischen ist die 51-Jährige überzeugt, dass sie durch Psychotherapie und Entspannungsmethoden ausreichend gut aufgestellt ist, um ohne Medikamente klarzukommen. Seit über einem Jahr reduziert sie in ganz kleinen Schritten ihre Dosis, feilt sich mit einer Nagelfeile ihre Tabletten zurecht.

Diesen Weg aber schaffen längst nicht alle, die an Depressionen leiden und seit Jahren Medikamente nehmen. Experten wie Professor Bschor sagen selbstkritisch, sie würden inzwischen sehr viel zurückhaltender Medikamente verschreiben und über Absetzprobleme aufklären. Und auch Patientenorganisationen raten, das Absetzen in viel langsameren und kleineren Schritten zu vollziehen, als es Hausärzte und Psychiater oftmals empfehlen.

Psychopharmaka: Pharmakologische Wirkung umstritten

💬 BR24-User haben in den Kommentaren die Wirkung von Psychopharmaka diskutiert. Das Team von "Dein Argument" hat ergänzt:

Dass solche Medikamente Nebenwirkungen und teilweise schwere Komplikationen beim Absetzen verursachen, ist in der Wissenschaft inzwischen Common Sense. Das wird auch in der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Unipolare Depression thematisiert. Thema ist dort auch die umstrittene pharmakologische Wirkung dieser Medikamente. Denn ein Großteil der Wirksamkeit von Antidepressiva, so ist es auch in der NVL von 2022 zitierten Meta-Analyse nachzulesen, geht auf den Placebo-Effekt zurück. Dass diese Medikamente manchen Menschen helfen, ist unbestritten. In der Leitlinie ist dennoch von einer eher kleinen Wirkungsdifferenz zu Placebo die Rede. 💬

Mehr zu diesem Thema erfahren Sie heute (5.6.) um 12:17 Uhr im Radioprogramm von BR24 in der Sendung Funkstreifzug. Den Funkstreifzug gibt es auch als wöchentlichen Podcast. Sie finden ihn zum Beispiel in der ARD Audiothek.

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