Marine Le Pen vom Rassemblement National
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Die Europawahl und der Rechtsruck – eine Analyse

Die Europawahl und der Rechtsruck – eine Analyse

Glaubt man den Umfragen, wird das künftige EU-Parlament "konservativer" oder "rechter" werden. Mit welchen Konsequenzen? Wie sind die möglichen neuen Kräfteverhältnisse in Europa einzuschätzen? Ein analytischer Vorausblick.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Zeitzeugen der Nazi-Diktatur haben einen Aufruf an die 16- und 17-Jährigen gerichtet, die in Deutschland nun erstmals wählen dürfen: "Wir konnten es damals nicht verhindern. Aber ihr könnt es heute", heißt es in ihrem Appell. "Die Rechten sind damals nicht durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, sondern auf demokratischem Wege", schreiben die acht Unterzeichner um die Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub und Margit Korge.

Ihre Sorge gilt dem wahrscheinlichen Erstarken der europäischen Rechtsaußenparteien, die die EU zum Teil als "gescheitertes Projekt" betrachten und sich für eine mehr oder weniger vollständige Souveränität der Nationalstaaten starkmachen. Ist die EU oder gar die Demokratie in Gefahr? Nüchtern betrachtet eher nicht.

Neue Rechtsfraktion als zweitstärkste Kraft?

Selbst bei sehr großen Zugewinnen werden die Parteien des rechten Randes zusammen insgesamt kaum mehr als auf 200 der 720 Sitze im Europäischen Parlament kommen. Realistischer ist diese Rechnung: Umfragen zufolge kann die christlich-konservative Parteienfamilie EVP mit den deutschen Parteien CDU und CSU darauf hoffen, mit etwa 180 Sitzen klar stärkste politische Kraft zu werden und weiterhin mit den – vermutlich geschwächten – Sozialdemokraten und Liberalen zusammenarbeiten.

In diesem Fall könnte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) noch am Wahlabend ihren Anspruch auf eine erneute Amtszeit bekräftigen. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass eine neue rechte Fraktion die Kräfte dieses Spektrums sammelt und der EVP in etwa ebenbürtig werden könnte.

Rechtes Lager im Umbruch

Nach dem Ausschluss der AfD-Abgeordneten aus der Fraktion Identität und Demokratie (ID) sortiert sich das rechte Lager neu. Anlass für den Rauswurf sind Vorwürfe, zwei AfD-Spitzenleute hätten für prorussische Äußerungen Geld genommen, und die Relativierung der Waffen-SS durch den AfD-Europapolitiker Maximilian Krah. Die vergangene Wahlperiode hindurch hatten sich die Deutschen innerhalb der ohnehin radikalen ID noch radikaler positioniert als der Rest.

Sehr zum Ärger von Marine Le Pen, deren Rassemblement National (RN) in Frankreich mit einer vergleichsweise moderaten Linie Erfolge feiert. Hardliner unter den Rechtsauslegern wie Mario Fantini, der Chefredakteur des European Conservative, geben Le Pen die Schuld an der Spaltung des Lagers. In einem Interview mit der neurechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" sprach Fantini von "Schande" und einem "strategischen Fehler".

Russlandfrage als neue Trennlinie

Künftig könnte zwischen prorussischen und pro-ukrainischen Parteien die Trennlinie innerhalb des Rechtsaußen-Lagers verlaufen. Einerseits gibt es Bestrebungen, eine schlagkräftige, aber relativ gemäßigte Fraktion zu bilden, mit zwei großen Playern: dem RN in Frankreich und Giorgia Melonis Fratelli d’Italia. Beide waren bislang in unterschiedlichen Fraktionen vertreten: der RN in der ID, die Fratelli in der EKR.

Andererseits sucht die geschasste AfD derweil – unter anderem in Ungarn – nach neuen Verbündeten, um eine kleine prorussische Fraktion zu schmieden. Voraussetzung ist allerdings: Es müssen mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Staaten zusammenkommen. Die AfD unter den Fraktionslosen? Ausgeschlossen ist auch das nicht.

Der Meloni-Faktor

Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre Fratelli d’Italia haben sich inzwischen so gemäßigt, dass die Positionen sowohl zu einer neuen Rechtsfraktion als auch zur demokratisch-konservativen EVP anschlussfähig sind. In der komfortablen Situation sich aussuchen zu können, wohin sie geht, ist Meloni dennoch nicht. Zwar will Le Pen Meloni bei sich haben, um die zweitgrößte Fraktion im EU-Parlament zu zimmern. Und EVP-Chef Manfred Weber (CSU) schließt eine Zusammenarbeit mit den Fratelli nicht aus – ist aber gegen eine Aufnahme in die Fraktion. "Für mich stellt sich die Frage, mit wem wir in Europa Mehrheiten organisieren können, um etwas Konstruktives voranzubringen“, sagt Weber.

Durch eine zumindest lose Zusammenarbeit mit der EVP würde Melonis Partei immerhin nah ans Machtzentrum der EU rücken und indirekt Teil einer möglichen neuen Von-der-Leyen-Koalition werden lassen. Sollte Meloni allerdings bei Le Pen und der ID andocken, wäre eine Zusammenarbeit mit der EVP schwierig. Dort gilt Le Pen trotz ihres moderateren Kurses noch immer als EU-feindlich.

Grund zum Feiern?

Die europäischen Rechtsparteien sind bereits in Feierlaune. In Frankreich könnte der RN laut Umfragen die mit Abstand stärkste politische Kraft werden und doppelt so viele Parlamentssitze holen wie das Wahlbündnis Besoin d'Europe von Präsident Emmanuel Macron. Auf deutliche Zugewinne dürfen auch die Fratelli d'Italia, die Partei für die Freiheit (PVV) des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders, die österreichische FPÖ und die deutsche AfD hoffen.

Klar ist: Von der Leyens Großprojekt, der Green Deal, könnte unter Druck kommen und auch die EU-Politik in den Bereichen Soziales und Migration. Ein großer europaweiter "Rechtsruck" ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Europa wird zwar aller Voraussicht nach "konservativer" oder "rechter". Die EU oder die Demokratie werden daran aber nicht zerbrechen. Blickt man weiter in die Zukunft, ist ein großer Rechtsruck bei den Europawahlen im Jahr 2029 nicht ausgeschlossen – für den Fall, dass Marine Le Pen französische Staatspräsidentin wird.

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