Heute wurde in Hannover eine Studie vorgestellt, die Ausmaß und Gründe für Missbrauch auch in der evangelischen Kirche untersucht hat.
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Heute wurde in Hannover eine Studie vorgestellt, die Ausmaß und Gründe für Missbrauch auch in der evangelischen Kirche untersucht hat.

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Evangelische Missbrauchsstudie: "Spitze der Spitze des Eisbergs"

Evangelische Missbrauchsstudie: "Spitze der Spitze des Eisbergs"

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der Evangelischen Kirche in Deutschland ist viel höher als bislang angenommen: Eine nun vorgestellte Studie spricht von 2.225 Betroffenen. Doch das sei nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", so die Studienautoren.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der Evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam hat an diesem Donnerstag in Hannover seine Studie vorgestellt, in der von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist.

Hochrechnung geht von 9.355 Betroffenen aus

Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs". Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht strukturiert hätten erfasst werden können, heißt es in der Mitteilung des Forscherteams. Untersucht wurden den Angaben zufolge flächendeckend nur Disziplinarakten, eine nicht näher benannte Landeskirche stellte den Wissenschaftlern auch Personalakten zur Verfügung.

Laut einer Hochrechnung, die aus Sicht des Forscherteams mit "sehr großer Vorsicht" betrachtet werden muss, ergebe sich eine Zahl von insgesamt 9.355 sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen bei geschätzt 3.497 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.

Ausgewertet wurden rund 4.300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und rund 1.320 weitere Unterlagen. Zum Vergleich: Bei der MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz 2018 wurden rund 38.000 Personalakten durchgesehen.

Es könnten "keinerlei Vergleiche" mit der Katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden, betonte Studienleiter Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover. "Die Zahlen legen in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der Evangelischen Kirche und Diakonie nahe."

99,6 Prozent der Beschuldigten sind Männer

Laut der nun vorgestellten Studie des Forschungsverbunds ForuM ("Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland") waren 64,7 Prozent der Opfer männlich und 35,3 weiblich. Bei den Beschuldigten handelt es sich demnach fast ausschließlich um Männer (99,6 Prozent). Rund drei Viertel von ihnen waren bei der Ersttat laut Studie verheiratet.

Bei der Schwere der Tat gibt es demnach eine große Spannweite: Bei den meisten Taten handelt es sich aber um sogenannte Hands-on-Handlungen, das heißt, es gab einen Körperkontakt mit den Opfern – von nicht notwendigen körperlichen Hilfestellungen im Sportunterricht bis hin zur Penetration.

Und auch bei der evangelischen Kirche rangierte offenbar lange der Schutz der Institution vor einer engagierten Aufklärung. Betroffene seien mit dem Wunsch nach Vergebung konfrontiert worden, so Wazlawik. Sei diese nicht erfolgt, seien sie "als Gegenüber der Kirche" konstruiert worden. Die Folge: sozialer Ausschluss, in dessen Folge vielen Missbrauchsbetroffenen nichts anderes übrigblieb, als den Wohnort zu wechseln.

Missbrauchsopfer fordern Konsequenzen

Die Studie zeige, dass der Föderalismus der Evangelischen Kirche "ein Grundpfeiler für sexualisierte Gewalt" sei, sagte Detlev Zander, der Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, bei der Vorstellung der Studienergebnisse. Die föderale Struktur verhindere Aufarbeitung. Zander forderte eine übergeordnete Stelle: "Es kann nicht sein, dass jede Landeskirche machen kann, was sie möchte."

Auch Katharina Kracht, die dem früheren Betroffenenbeirat der EKD angehörte und Mitglied im Beirat der am Donnerstag vorgestellten Studie war, kritisierte, die EKD sei "eigentlich ein zahnloser Tiger". Aus ihrer Sicht fehle in den Landeskirchen Kompetenz und vermutlich auch Interesse, Fälle tatsächlich aufzudecken. "Wenn solche Nachforschungen nicht unternommen werden, bleiben Täter unentdeckt."

Sie forderte Unterstützung des Staates bei der Aufarbeitung. "Die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber", sagte sie mit Blick auf Ergebnisse der Studie, wonach Betroffene oftmals keine hilfreiche Reaktion der Evangelischen Kirche erlebt haben. Benötigt würden externe Stellen, an die sich Betroffene wenden können, sagte Kracht.

EKD-Ratsvorsitzende Fehrs zeigt sich "zutiefst erschüttert"

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs zeigte sich in einer ersten Reaktion "sehr, sehr erschüttert". Die Evangelische Kirche Deutschlands habe sich "an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht". Sie gestand ein, die Kirche habe "Täter schützende Strukturen" und versprach Abhilfe: "Es muss sich sehr, sehr viel verändern, und wir nehmen es an."

Die Untersuchung vermittle schwarz auf weiß, "mit welch perfider und brutaler Gewalt Erwachsenen, Jugendlichen und auch Kindern unsägliches Unrecht angetan wurde – mit schweren Verletzungen an Leib und Seele, mit zum Teil lebenslangen Folgen".

In Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen habe es ein Wegsehen gegeben, sagte die Bischöfin. Kirche und Diakonie hätten eklatant versagt. In der Vergangenheit war mehrfach Kritik an der schleppenden Aufarbeitung von Missbrauch bei den Protestanten laut geworden.

Diakonie-Präsident Schuch: "Wir werden Konsequenzen ziehen"

"Ich bin den betroffenen Personen dankbar, dass sie es für die ForuM-Studie auf sich genommen haben, die Erfahrung ihres Leids zu teilen", sagte Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch. Man wolle nun mit den Betroffenen gemeinsam die Aufarbeitung aller Fälle weiter voranbringen.

Die Diakonie werde die Ergebnisse umgehend analysieren und mit den Landesverbänden Konsequenzen ziehen, sicherte Schuch zu. "Wir sind entschlossen, die gesamte Praxis und Kultur der Arbeit in unserem Verband, in unseren Einrichtungen und Diensten zu prüfen – und wo es nötig ist, auch tiefgreifend zu verändern."

Erste übergreifende Missbrauchsstudie in der evangelischen Kirche

Die "ForuM"-Missbrauchsstudie ist die erste übergreifende Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und der Diakonie. Die EKD hatte die Studie des Forschungsverbunds ForuM unter Leitung der Hochschule Hannover und Beteiligung fünf weiterer Institute und Universitäten vor gut drei Jahren in Auftrag gegeben. Die Kosten: rund 3,6 Millionen Euro.

Die Untersuchung enthält sechs Teilstudien, in denen Ursachen und Besonderheiten von sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche nachgegangen wird. Auch Betroffene waren an den Forschungen beteiligt. Ziel ist eine Gesamtanalyse evangelischer Strukturen und systemischer Bedingungen, die sexualisierte Gewalt begünstigen und ihre Aufarbeitung erschweren.

Mit Informationen von epd, KNA und dpa

Im Video: Interview mit Landesbischof Christian Kopp

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen.
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Christian Kopp ist der Landesbischof der ev.-luth. Kirche in Bayern.

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