Mehr als 50 Menschen wurden laut aktuellen Berichten bei dem Angriff am Bahnhof Kramatorsk im Osten der Ukraine getötet.
Bildrechte: FADEL SENNA / AFP
Bildbeitrag

Mehr als 50 Menschen wurden laut aktuellen Berichten bei dem Angriff am Bahnhof Kramatorsk im Osten der Ukraine getötet.

Bildbeitrag
>

#Faktenfuchs: Angebliches BBC-Video über Kramatorsk ist Fake

#Faktenfuchs: Angebliches BBC-Video über Kramatorsk ist Fake

Im Netz verbreitet sich ein Video, das aussieht, als sei es von der BBC. Darin wird der Ukraine die Schuld an dem Angriff auf den Kramatorsker Bahnhof gegeben. Doch das Video ist gefälscht.

Über den Angriff auf Zivilisten, die am 8. April am Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk auf Evakuierungszüge in den Westen des Landes warteten, haben Medien weltweit berichtet. Mehr als 50 Menschen wurden aktuellen Berichten zufolge bei dem Angriff getötet.

Nun geht ein Video im Netz um, das den Anschein erweckt, es stamme vom britischen Sender BBC. Zu Beginn sind aneinander geschnittene Szenen zu sehen, die kurz nach dem Angriff aufgenommen sein sollen.

Im Text, der dazu eingeblendet wird, wird behauptet, die Ukraine selbst hätte den Angriff auf den Bahnhof verübt. Doch das Video ist ein Fake, für die Behauptungen gibt es keine stichhaltigen Belege. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass die Verbreitung des Videos eine koordinierte Aktion gewesen sein könnte. Das zeigt dieser #Faktenfuchs.

Angebliches BBC-Video verbreitet sich über soziale Netzwerke

Das unter anderem auf Twitter viel geteilte Video besteht unter anderem aus einem Handy-Video, das am Kramatorsker Bahnhof aufgenommen wurde. Es zeigt zahlreiche leblose Körper, die auf dem Bahnsteig liegen. Darüber wurden neben dem BBC-Logo auch Texteinblendungen gelegt, die augenscheinlich das gleiche Design haben wie die Einblendungen, die die BBC etwa bei ihren Videos auf Instagram verwendet.

Bildrechte: Collage: BR, Bilder: Twitter / BBC
Bildbeitrag

Der Vergleich von Fake-Video und einem echten BBC-Video zeigen: Logo und Schrifteinblendungen sind augenscheinlich identisch.

Dass es sich dabei um einen Fake handelt, hat sowohl die Presseabteilung der BBC auf Twitter bestätigt, als auch ein Producer der BBC, der für die BBC über den Angriff auf den Bahnhof berichtete.

Verbreitung in mehreren Sprachen und mit ähnlichem Wortlaut

Der Angriff auf den Kramatorsker Bahnhof fand am 8. April statt, das gefälschte BBC-Video wurde von zahlreichen Accounts am 13. April verbreitet. In Tweets dazu heißt es, dass die BBC jetzt "endlich" auch berichten würde, wer hinter dem Angriff stecke. Auffällig ist, dass das Video auf Twitter zu ähnlicher Zeit von zahlreichen Profilen in unterschiedlichen Sprachen geteilt wurde.

Sandro Gaycken von der privaten Hochschule ESMT Berlin, der sich intensiv mit Themen wie Cyberkrieg beschäftigt, sagt: Mehrere Aspekte würden für eine koordinierte Aktion sprechen. Dass das Video zeitgleich von Accounts in unterschiedlichen Sprachen geteilt wurde, spreche dafür, dass es sich um eine "konzertierte, aber eilige Operation" handele. Solche Muster seien immer klare Indizien für einen "gut aufgestellten Akteur".

Laut #Faktenfuchs-Recherchen teilten Accounts das Video innerhalb weniger Stunden in deutscher, englischer, italienischer, spanischer, katalanischer, indischer und französischer Sprache. Die meisten Accounts haben gemeinsam: Ihre Profilinformationen sind nicht eindeutig echten Personen zuzuordnen. Eine Ausnahme ist zum Beispiel das Profil eines russischen Journalisten.

Bildrechte: Collage: BR, Bilder: Twitter / BBC
Bildbeitrag

Das Video verbreitete sich in deutsch-, englisch, italienisch-, spanisch-, indisch- und französischsprachigen Tweets.

Cyberexperte Gaycken schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage, dass es sich dabei um russische Propaganda-Accounts handeln könnte. Auffällig sei auch, dass Tweets teilweise nahezu wortgleich formuliert sind. Die Accounts hätten auch vorher hauptsächlich dementsprechende Desinformation geteilt.

"Dies sind in der Vergangenheit beliebte Propagandathemen der Russen gewesen, die exakt über solche gefälschten Accounts abgesetzt wurden, um gesellschaftlichen Dissens zu fördern und die Menge der Verschwörungsgläubigen zu vergrößern, um demokratische Länder so in ihren demokratischen Prozessen und Diskursen zu unterwandern." Sandro Gaycken, Cyberexperte

Andere Experten äußern sich vorsichtiger - eine Verbreitung von ähnlichen Botschaften in verschiedenen Sprachen sei noch kein Beleg für eine Desinformations-Kampagne. Viorela Dan, die an der LMU München zu Fehlinformation und ihrer Richtigstellung forscht, sagt, es sei zwar nicht auszuschließen, dass es sich um eine koordinierte Verbreitung handle. Es könne aber auch sein, dass echte Nutzer Posts automatisch übersetzt und selbst weiterverbreitet hätten, was die ähnliche Formulierung erklären könnte.

Fake-Video ist "klassische False Flag-Aktion"

Dass mit der BBC ein renommiertes Medium Ziel einer Desinformations-Aktion ist, kommt im Zuge des Ukraine-Kriegs nicht zum ersten Mal vor. Anfang März wurden Fotos verbreitet, in die das Logo des US-amerikanischen Senders CNN nachträglich hinzugefügt wurde. Die Fakes verbreiteten sich ebenfalls großflächig über die sozialen Netzwerke.

Das sei eine "klassische False Flag-Aktion", sagt Kommunikationswissenschaftler Thomas Hanitzsch, der an der LMU zu Journalismus und Kriegsberichterstattung forscht. Diese Taktik sei altbekannt und sehr beliebt, um die öffentliche Meinung in einer Situation wie dem aktuellen Krieg irrezuführen. "Indem man Falschinformationen in das Gewand einer glaubwürdigen Medienmarke packt, erreicht man sehr einfach User mit der Desinformation und trägt zur größeren Verbreitung bei", sagt Hanitzsch.

Viorela Dan von der LMU ergänzt: "Akteure, die Desinformation verbreiten, ahmen häufig das Design authentischer Informationen nach, das erhöht die Glaubwürdigkeit der Behauptungen". Solche Fake-Videos mit BBC-Logo könnten deshalb Zweifel säen oder sogar dazu führen, dass Rezipienten die Kernaussage des Videos nicht hinterfragen. Diese Taktik funktioniere für begrenzte Zeit sehr gut, so Hanitzsch - und selbst wenn Medien wie die BCC das Video als Fake enttarnen, könne der erste Eindruck von einer Nachricht entscheidend sein.

Die Forschung zeige, dass die Reputation, die seriöse und glaubwürdige Fernsehkanäle wie die BBC hätten, auf die Wirkung von Nachrichten ausstrahle, sagt Hanitzsch. "Der Vertrauensvorschuss wirkt sich auf unsere Verarbeitung aus: Man bekommt das Gefühl, etwas ist authentisch und entspricht der Wahrheit." Auch innerhalb der prorussischen Blase, die sowieso geneigt sei, russischer Propaganda zu glauben, könne es Effekte haben, wenn vermeintlich etablierte Medien ihre Ansichten aufgreifen - von wegen "Das hat sogar die BBC berichtet". Ein zusätzlicher Vorteil daran, für so eine "False Flag Attacke" die BBC auszuwählen, sei die englische Sprache: So könne das Fake-Video potentiell einen viel größeren Teil der Weltbevölkerung erreichen.

Behauptungen im Video: Was weiß man über den Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk?

Bildrechte: FADEL SENNA / AFP
Bildbeitrag

Ukrainische Polizisten untersuchen die Überreste der Rakete neben dem Bahnhof Kramatorsk. Auf der Rakete steht in russisch "für unsere Kinder".

Doch was ist dran an den Behauptungen im Fake-BBC-Video? Es legt nahe, die Ukraine habe selbst den Bahnhof bombardiert, da die verwendete Rakete vom selben Typ "Tochka-U" mit derselben Seriennummer sei, die auch die Ukraine verwende. Die russische Führung gab bereits kurz nach dem Angriff der ukrainischen Armee die Schuld, während die Ukraine Russland verantwortlich macht.

Bekannte deutsche prorussische Propaganda-Kanäle behaupten, die Russen könnten es nicht gewesen sein, da nur die Ukraine diese Raketen hätte. "Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Doch internationale Militär- und Waffenexperten bezweifeln diese Darstellung.

Zwar besitzt die Ukraine laut dem jährlichen Militärbericht "The Military Balance" des "International Institute for Strategic Studies" für 2022 90 Tochka-U-Abschusssysteme, wobei zu jedem System laut Militärexperten mehrere Nachladungen gehören - also mehrere Raketen. Bei Russland sind dagegen in dem Bericht keine Tochka-U-Raketen mehr aufgeführt.

"Russland hat die Tochka-U-Raketen offiziell 2019 aus den aktiven Beständen ausgemustert", sagt Oberst a.D. Wolgang Richter, Militär- und Rüstungsexperte mit Russland und Osteuropa-Schwerpunkt vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit. "Das heißt aber nicht, dass diese nicht mehr genutzt werden können." Laut mehreren Rüstungsexperten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, gibt es keine Beweise, dass Russland seine Tochka-U-Raketen vernichtet hätte und nicht noch Zugriff darauf hätte.

Laut den Analysten des "Conflict Intelligence Teams" (CIT) ist es "nachweisbar falsch", dass Russland keine Tochka-U-Raketen mehr habe. Das CIT hat Bilder und Videos gesammelt, die angeblich zeigen, dass das russische Militär die Raketen noch nutzt. Auf Militärthemen spezialisierte Medien und Thinktanks berichteten Ähnliches.

Investigativreporter berichteten laut der "Tagesschau", dass die in Belarus stationierten russischen Truppen mehrere Tochka-U erhalten hätten und diese bei einer gemeinsamen Übung verwendet worden seien.

Seriennummer "nicht aussagekräftig"

Das Abschusssystem Tochka-U wurde ursprünglich in Russland entworfen und von 1989 an verwendet. Militärexperten sehen hier ein grundsätzliches Problem durch die Zeit der Sowjetunion: Beide Seiten des aktuellen Kriegs verwenden bei vielen Waffen dieselben Modelle aus denselben Produktionsstätten, was eine eindeutige Zuordnung sehr schwer macht.

Als inhaltlicher Beleg in dem Fake-Video soll auch dienen, dass die Seriennummer der Rakete die gleiche sei wie bei Raketen im Arsenal der Ukraine. "Solche Nummernbeweise sind leicht zu manipulieren und nicht sehr aussagekräftig", sagt Militär- und Rüstungsexperte Wolfgang Richter. Aus der Seriennummer könne man nichts ablesen, da diese bei Raketen nicht international registriert würden. Außerdem lasse sich die Nummer auf der Rakete verändern. "Das ist keine Beweisführung - wir können weder das eine noch das andere annehmen."

Er und auch andere Militärexperten halten es aber aus militärischer Perspektive für unwahrscheinlich, dass die Ukraine ihren eigenen Bahnhof bombardieren würde. Aus russischer Sicht sei der Bahnhof wiederum ein plausibles Ziel gewesen. Kramatorsk sei ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt für die Ukraine - nicht nur für die Evakuierung der Zivilbevölkerung, sondern auch für den Transport von schwer gepanzerten Kräften. "Es gibt keine militärische Plausibilität dafür, dass die Ukrainer ihre eigenen Verbindungslinien zerstören, die sie für die Verlegung von Reserven in den Donbas benötigen, um der bevorstehenden russischen Offensive etwas entgegensetzen zu können", sagt Richter.

Fazit

Das angebliche BBC-Video, das behauptet, die Ukraine habe selbst den Bahnhof in Kramatorsk bombardiert, ist ein Fake. Laut Kommunikationswissenschaftlern handelt es sich hier um eine "klassische False Flag-Aktion" - eine weit verbreitete Taktik der Desinformation, die die Glaubwürdigkeit von Falschinformationen erhöhen soll.

Für die Behauptungen im Video gibt es keine stichhaltigen Belege - es lässt sich laut Rüstungsexperten nicht nachweisen, ob die Rakete zu Russland oder der Ukraine gehört habe. Militärexperten halten es aber aus militärischer Perspektive für unwahrscheinlich, dass die Ukraine ihren eigenen Bahnhof bombardieren würde.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!