Angriffe auf kritische Infrastruktur in der Ostsee, Spionage mithilfe von Drohnen oder auch Cyberattacken: Die Bedrohungslage für Deutschland und seine Nato-Verbündeten ist real. Zugleich droht das Szenario, dass Russland in Zukunft an der Nato-Ostgrenze militärischen Druck ausüben könnte. Generalleutnant André Bodemann, Stellvertreter des Befehlshabers Operatives Führungskommando der Bundeswehr und Kommandeur Territoriale Aufgaben, ist zuständig für den Operationsplan Deutschland. Ein Plan für den Ernstfall, sollten Deutschland und die Nato sich verteidigen müssen. BR-Chefredakteur Christian Nitsche hat mit ihm in "7 Fragen Zukunft" gesprochen. (Das vollständige Interview hier im Artikel im Video.)
Christian Nitsche: Herr Bodemann, wir würden gerne über Frieden sprechen, aber anscheinend müssen wir über einen möglichen Krieg reden, da wir ständig angegriffen werden?
André Bodemann: Das stimmt. Wir befinden uns formaljuristisch nicht im Krieg, aber nach meiner Auffassung auch schon lange nicht mehr im Frieden, weil wir jeden Tag hybriden Bedrohungen ausgesetzt sind. Das ist spürbar und das nimmt spürbar zu.
Im Video: Was passiert, wenn Putin angreift? 7 Fragen Zukunft
Nitsche: Wie sehr nimmt das denn zu? Werden wir tatsächlich immer mehr zum Angriffsziel?
Bodemann: Ja. Deutschland spielt eine besondere Rolle, weil wir geostrategisch im Herzen Europas liegen. Und das bedeutet für eine ganz konkrete Situation, wenn Russland irgendwann einmal an der Nato-Ostflanke ein Manöver durchführt, das das Potenzial hat - ich will nicht sagen, sie greifen an - aber das das Potenzial hat, das Nato-Bündnisgebiet anzugreifen, also uns zu bedrohen, dann wird die Nato mit ihren Verteidigungsplänen reagieren und wird alliierte Kräfte aufmarschieren lassen. Und das wird im Wesentlichen durch Deutschland erfolgen, weil wir im Herzen Europas sind.
Blutkonserven an der Grenze als Anzeichen für einen drohenden Krieg
Nitsche: Was gibt es da für Szenarien, wenn ein Krieg im Osten droht? Dass plötzlich "grüne Männchen", Soldaten ohne Abzeichen, nach Estland kommen, wie damals auf der Krim?
Bodemann: Das kann passieren, ja. Aber wir haben auch andere Indikatoren für einen möglichen Angriff. Beispielsweise sind Blutkonserven ein hohes Gut. Und wenn man Blutkonserven an die Grenze verlegt, dann heißt es schon, dass man da nicht nur etwas zeigen möchte, sondern dieses hohe Gut auch einsetzen möchte. Es gibt eine Reihe von solchen Indikatoren, über die ich jetzt im Detail nicht sprechen kann. Aber das ist ein Beispiel dafür.
"Operationsplan Deutschland soll niemals zur Anwendung kommen"
Nitsche: Wenn das Nato-Gebiet angegriffen ist, dann sind wir nach Artikel 5 in der Verteidigungssituation und auch verpflichtet zu helfen, oder?
Bodemann: Erstmal wird vielfach gesagt, der Operationsplan Deutschland und die Nato-Verteidigungspläne sind zur Vorbereitung auf den Krieg. Das ist eben genau nicht der Fall. Im Extremfall werden wir natürlich auch dann die Situation durchdacht haben. Aber wenn es zu dieser Drohgebärde an der Nato-Ostflanke seitens Russlands kommt, wollen wir ja genau in einer solchen Phase die Nato so aufmarschieren lassen, dass es eben nicht zu dem nächsten Schritt, nämlich zu einem Krieg kommt.
Das würde juristisch bedeuten, dass im Deutschen Bundestag die Mehrheit noch gar nicht erforderlich ist, um einen Spannungs- oder Verteidigungsfall auszurufen. Genau das wollen wir verhindern, wir wollen alles dafür tun, dass genau das nicht erforderlich ist. Dieser Plan soll niemals zur Anwendung kommen, es sei denn in Teilen zu Übungszwecken. Wenn wir das schaffen, haben wir alles erreicht.
Nitsche: Aber können wir uns da so sicher sein? Wenn Putin sagt: Ich möchte im Grunde territorial wieder ein Gebiet haben wie die ehemalige Sowjetunion. Dann bedeutet das ja automatisch Krieg, oder?
Krieg gegen die Nato? "Putin könnte es ernst meinen"
Bodemann: Das könnte sein. Was wir momentan sehen und unsere nachrichtendienstlichen Quellen sagen, ist, dass Russland sehr viel in den Wiederaufbau der Streitkräfte investiert. Und das nicht nur, um das auszugleichen, was in der Ukraine verloren gegangen ist, sondern wir reden beispielsweise von der jährlichen Produktion von Panzern von etwa 1.000 bis 1.500, wobei nur ein ganz geringer Teil in die Ukraine wieder in den Krieg geht und der größte Teil in Depots.
Und da fragt man sich natürlich: Warum ist das so? Für was? Das sind natürlich dann diese Drohgebärden, die man aufbaut. Und es ist nicht nur das. Auch wie Putin seine Gesellschaft mit Schulbüchern umbaut, die auch Kinder auf Krieg vorbereiten. Und zwar nicht: Ich will Krieg verhindern. Sondern tatsächlich: Was passiert dann im Krieg? Das sind schon Hinweise darauf, dass er es ernst meinen könnte.
Deswegen müssen wir glaubhaft etwas dagegensetzen, dass wir es nicht dazu kommen lassen wollen. Und wenn es dazu kommt, dass wir bereit sind und auch in der Lage sind, das zu tun. Am Ende ist es das Wort "kriegstüchtig", was ja vielfach auch diskutiert wird, wo ich sage: Ich kann verstehen, wenn Menschen das Wort mit Unbehagen verbinden, aber am Ende ist damit gemeint, dass wir in der Lage sind, auch mental, zu sagen: Wenn es dazu käme, wären wir auch bereit, uns zu wehren, um das zu verteidigen, was uns lieb ist.
Nitsche: Danke für das Gespräch.
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