Nach einer nervenaufreibenden Nacht richten sich im Katastrophengebiet des Gletscherabbruchs in der Schweiz alle Augen auf den entstandenen Stausee hinter dem Schuttkegel. Dass sich die Wassermassen einen Weg ins Tal bahnen müssen, steht fest – aber ob das geordnet oder chaotisch abläuft, ist ungewiss.
Gigantische Fels-, Eis- und Geröllmengen haben seit dem Jahrhundert-Ereignis am Mittwoch das Bett des Flüsschens Lonza blockiert. Das Wasser hat sich zu einem See gestaut. Der Wasserstand stieg zeitweise stündlich um drei Meter. Talbewohner, Katastrophenhelfer und die herbeigerufenen Armeeangehörigen mussten allerdings tatenlos zusehen, wie sich die Lage zuspitzt. Mit schwerem Gerät Furchen für einen geordneten Ablauf des Wassers in den Schuttpegel zu fräsen, ist keine Option.
Kein Eingreifen möglich
"Unternehmen können wir leider wenig, weil die Sicherheitslage vor Ort es nicht zulässt, dass wir mit schweren Maschinen eingreifen können", sagte Christian Studer von der Dienststelle Naturgefahren des Kantons Wallis im Schweizer Fernsehen. Es gebe mehrere Gefahrenquellen: Der Schuttberg ist instabil, weil er aus Felsbrocken, losem Schutt und Gletschereis besteht, das schon teils geschmolzen sein dürfte. Weder Menschen noch Maschinen wären darauf sicher.
Michael Krautblatter, Professor für Hangbewegungen an der TU München, nannte die Situation im BR-Interview am Donnerstag "sehr gefährlich". Die sogenannte Schwappwelle, die beim Brechen dieser Seen entstehen könne, würde typischerweise wenige Stunden bis wenige Tage später eintreten. Es sei möglich, dass diese Nachereignisse schwieriger zu bewältigen sein können als der Gletscherabbruch, so der Fachmann für alpine Naturgefahren.
Wasser bahnt sich offenbar geordneten Weg durch Geröllberg
Inzwischen begann erstes Wasser durch den Schutt- und Geröllberg hindurch verhalten abzufließen, was Hoffnung auf ein Ausbleiben der befürchteten Flutwelle gibt. "Es zeichnet sich ein erstes Gerinne ab", sagte Naturgefahren-Experte Studer. "Der Verlauf hat uns optimistisch gestimmt, dass das Wasser sich einen guten Weg sucht." Man rechne nicht mit etwas Gröberem. Wie Vertreter des Kantons Wallis vor Journalisten erklärten, ist die Evakuierung weiterer Menschen aus benachbarten Ortschaften derzeit nicht mehr vorgesehen.
Nach dem Augenschein von Fachleuten, die das Gebiet immer wieder überfliegen, fließt das Wasser durch und teils über den mehr als zwei Kilometer langen Schuttkegel, der seit dem Gletscherabbruch das Flussbett der Lonza blockiert. Es handele sich um rund neun Millionen Kubikmeter Material, so Studer. Dahinter hat sich ein riesiger See gebildet.
Gefahr ist aber noch nicht gebannt
Die Gefahr sei aber nicht vorbei, warnten die Behörden. Je mehr Wasser langsam durch die sich über rund 2,5 Kilometer erstreckenden Schutt- und Geröllmassen abfließe, desto geringer sei die Gefahr einer plötzlichen Flutwelle, sagte der für den Kanton Wallis zuständige Geologe Raphaël Mayoraz dem Radiosender RTS. Er sprach von einem einem vergleichsweise positiven Szenario.
Gleichzeitig drohen von beiden Seiten des Tals weitere Rutschungen: An der ursprünglichen Abbruchstelle am Kleinen Nesthorn auf mehr als 3.000 Metern können immer noch mehrere hunderttausend Kubikmeter Gestein abstürzen. Zudem wurden bei dem Gletscherabbruch Geröll und Schuttmassen über den Talboden hinweg und auf der gegenüberliegenden Hangseite hochgeschoben. Auch sie könnten als Gerölllawine wieder abrutschen. Das Gelände sei sehr steil, was die Gefahr von weiteren Gerölllawinen vergrößert. Auch Niederschläge machen den Experten sorgen, so Studer. Ab Sonntag ist in dem Gebiet schlechtes Wetter vorhergesagt.
Staubecken vorsichtshalber geleert
Die Behörden können sich zurzeit nur mit der Gefahrenbeurteilung und organisatorischen Maßnahmen befassen, sagte Studer. "Wir können sicherstellen, dass sich möglichst keine Personen in einem gefährdeten Gebiet aufhalten." Außerdem wurde ein weiter unten bei Ferden an der Lonza gelegener Stausee vorsichtshalber geleert, um als Auffangbecken zu dienen.
Studer spricht aber auch das Schreckensszenario an, das zwar unwahrscheinlich, aber möglich ist: "Das 'Worst Case'-Szenario ist, dass plötzlich entgegen den aktuell als eher realistisch eingeschätzten Szenarien viel mehr Wasser und Geschiebe kommt, das das Staubecken Ferden nicht mehr zu schlucken vermag", sagte er. Einzelne Häuser entlang des Flussbettes wurden geräumt.
Bewohner zur Flucht bereit
Auch wenn Fachleute keine unmittelbaren Gefahren für die weiter unten im Tal gelegenen Ortschaften sehen, in zwei Gemeinden sitzen Bewohner dennoch auf gepackten Koffern. "Wir fordern die Bewohner auf, persönliche Vorbereitungen zu treffen, um innerhalb möglichst kurzer Zeit die Wohnungen verlassen zu können", teilen die Gemeinden Steg-Hohtenn und Gampel-Bratsch mit. Sie würden über die Notfall-App Alertswiss und Sirenen alarmiert, wenn doch eine Flutwelle oder Gerölllawine kommt. Zudem wurden talabwärts des Schutt- und Geröllberges Dämme errichtet.
Mit Informationen von dpa und AFP
Zum Audio: Eindrücke aus dem Lötschental von BR-Reporter Georg Bayerle
Eindrücke aus dem Lötschental
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