Kommentar von BR-Chefredakteur Christian Nitsche
Bildrechte: BR/Lisa Hinder
Bildbeitrag

BR-Chefredakteur Christian Nitsche

Bildbeitrag
>

Kommentar: Militärische Bettelnation Deutschland

Kommentar: Militärische Bettelnation Deutschland

Deutschland müsse aufrüsten, um Europa vor Putin zu schützen. Auf den Schutz Amerikas sei nicht immer Verlass, das habe die Amtszeit Trumps gezeigt. Es sei daher Zeit, Tabus zu überdenken, meint BR-Chefredakteur Christian Nitsche in seinem Kommentar.

Wirtschaftssanktionen allein können Putin nicht stoppen. Das zeigt sein Angriff auf die Ukraine. Dem russischen Präsidenten ist es egal, dass seine Bevölkerung unter Sanktionen leidet. Ihm geht es darum, in die Geschichte einzugehen als Herrscher, der Teile des alten Sowjetimperiums zurückerobert hat.

Die Welt hat gelernt: Vor Putin muss man sich mit Waffen schützen. Die Ukraine hat aber zu wenige, um lange der russischen Übermacht standzuhalten. Denn der Westen hat es unterlassen, die Ukraine so zu bewaffnen, dass sich das Land selbst gut genug schützen kann. Das demokratische Land wurde so zu einem Pufferstaat degradiert, den sich Putin nun leichter einverleiben kann.

Schutz durch Geschlossenheit

Aber wie steht es um die Sicherheit der anderen Staaten in Europa? Wird Putin als nächstes zum Beispiel die baltischen Staaten militärisch überrollen? Das wäre für ihn ein Leichtes. Aber sie sind seit 2004 ein Mitglied der Nato. Es gibt eine Beistandspflicht. Und sowohl die Nato-Führung wie auch die US-Regierung haben unmissverständlich klar gemacht, dass sie keinen Meter Land der Mitgliedsländer kampflos preisgeben werden. Der Westen ist hier sehr geschlossen. Putin wird es deshalb nicht wagen, einen Nato-Staat anzugreifen. Dies wäre die Schwelle zur größten Militärkonfrontation seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein zu großes Risiko, auch für Putins Machtstatus.

Was aber, wenn die US-Regierung wechselt und wieder ein Mann wie Donald Trump an die Macht käme? Ein unkalkulierbarer, populistischer Präsident, der "America first" proklamiert. Trump hatte 2019 damit gedroht, er werde sein "eigenes Ding machen", wenn die Bündnispartner nicht genug in die Nato einzahlen. Dies war ein Schock für das Bündnis. Ohne die USA wäre die Abschreckung der Nato sehr begrenzt. Autoritäre Herrscher wären ermutigt, die Geschlossenheit und Kampfkraft der Nato zu testen.

Wer folgt auf Biden?

Es ist unklar, ob Amerika nach der nächsten Präsidentschaftswahl Ende 2024 ähnlich entschlossen zur Nato stehen wird wie jetzt. Dies wird auch davon abhängen, ob Staaten wie Deutschland genug in Verteidigung investieren. Nach der Annexion der Krim durch Russland in 2014 hat sich auch Deutschland als Nato-Staat verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren das Ziel zu erreichen, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufzuwenden. Noch hat Deutschland das Ziel nicht erreicht. Zum Erhalt einer geschlossenen Nato wäre dies aber erforderlich. Falls ein künftiger US-Präsident aber ähnlich wankelmütig wie Trump wäre, müsste sich Europa erneut fragen, ob es selbst militärisch genug Abschreckungskraft hätte, um Putin von weiteren Beutezügen abzuhalten.

Schleunige Aufrüstung

Deutschland ist schon lange kaum noch in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Wir stünden "mehr oder weniger blank" da, sagt Alfons Mais, der Inspekteur des Heeres. Alles wäre dahin, würden wir angegriffen und die Nato schritte nicht entschlossen ein. Was also ist die Lehre aus dem Ukraine-Angriff Putins? Deutschland muss in kurzer Zeit viel mehr in Verteidigung investieren.

Die Friedensillusion nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion muss einem überfälligen Realismus weichen: Putin greift westliche Demokratien an. Ja, harte Sanktionen sind richtig, eine nötige Strafe. Aber sie bieten vor Putin offenbar kaum Schutz. Die Kriegsgefahr wird nicht geringer, wenn Russlands Wirtschaft stark unter neuen Sanktionen leiden wird. Sie wird womöglich sogar größer. Dies wird klar, wenn man das System Putin analysiert: Er setzt auf Propaganda, die Eliminierung kritischer Medien, die Verfolgung politischer Gegner und das alte Feindbild: der Westen. Er schafft einen Nährboden für Nationalismus, der immer wieder bedient werden muss. Herrscher nutzen oft Militäraktionen, um die eigene Macht abzusichern, um abzulenken vom wirtschaftlichen Siechtum. Dieser Mechanismus zum Machterhalt von Diktaturen ist gefährlich. Gerade wenn ihnen das Geld ausgeht.

Dienst an Europa

Deutschland braucht als besten Schutz also endlich eine starke Verteidigungs-Armee, eine funktionierende Luftwaffe, eine schlagkräftige Marine. Es ist schon absurd, dass Deutschland zu den größten Waffenexporteuren der Welt gehört, aber sich selbst nicht schützen kann. Mehr als die meisten anderen Länder in Europa haben wir auch die Finanzkraft, in Verteidigung zu investieren. Ein wehrhaftes Deutschland wäre auch ein Dienst an Europa. Die Lehren des letzten Jahrhunderts waren zwar, Deutschland muss militärisch schwach sein. Jetzt kann dies zum Nachteil für Europa werden. Deutschland ist eine gefestigte, gut ausbalancierte Demokratie. Aus diesem Status heraus hat sie beste Voraussetzungen, sogar die Verpflichtung, die Werte Europas auch militärisch absichern.

Schlüssel der atomaren Abschreckung

Die deutsche Geschichte verpflichtet uns schon gar nicht dazu, dass wir auf Verteidigung verzichten. Selbstschutz ist ein gutes Recht und – wie wir erkennen müssen – auch eine Notwendigkeit. Der Maßstab ist kein Zwei-Prozent-Ziel auf dem Papier, das die Ampelregierung leichter erreicht, wenn die deutsche Wirtschaftsleistung nachlässt. Der Maßstab ist die reale Bedrohung aus Russland. Doch dieser Übermacht kann man konventionell kaum begegnen. Der entscheidende Faktor ist also weiterhin der atomare Schutzschirm der USA. Wollte man sich nun absichern für den Fall, dass die USA zum Wackelkandidaten der Nato wird, müsste sich wohl auch Deutschland atomar bewaffnen. Dies war immer ein Tabu. Doch dies sind Tage, in denen auch Tabus auf den Prüfstand müssen. Nicht weil wir dies wollen, sondern weil Europa mit ansehen muss, welch große Aggression von Putin ausgeht. Er begründet seinen Angriff unter anderem mit einer "Entnazifizierung" der Ukraine. Sein Propagandawahn ist beachtlich. Lange Phasen des Kalten Krieges waren entspannter als die zurückliegenden Jahre der Ära Putin.

Fazit: Deutschland ist eine starke Wirtschaftsnation und zugleich eine militärische Bettelrepublik. Dies ist kein Modell für die Zukunft. Wir hatten es 30 Jahre lang relativ bequem. Wir genossen Sicherheit. Sie wird nicht zum Schein. Aber sie kostet uns mehr als bisher.

Ein Kommentar von Christian Nitsche, Chefredakteur Bayerischer Rundfunk

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!