Europäische Flaggen im Wind
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Krisen in Europa: Warum das Projekt EU nicht gescheitert ist

Krisen in Europa: Warum das Projekt EU nicht gescheitert ist

Am 9. Juni ist Europawahl. Corona, Brexit, Migration, Ukraine-Krieg: Die ablaufende Legislaturperiode war von Krisen geprägt. Schwächten sie die Gemeinschaft? Unser EU-Korrespondent zieht Bilanz.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Wenn Frankreichs Präsident über Europa spricht, erwartet das Publikum starke Worte und klare Ansagen. In seiner zweiten Grundsatzrede an der Pariser Universität Sorbonne hat Emmanuel Macron in dieser Hinsicht wieder geliefert. Europa könne sterben, mahnte Macron Ende April, es müsse sich gegenüber aufrüstenden Rivalen in der Welt Respekt verschaffen. Macrons Appell zielt auf eine stärkere europäische Verteidigung. Tatsächlich deckte der russische Angriffskrieg in der Ukraine Europas Schwächen auf. Die EU konnte ihr Versprechen nicht halten, Kiew eine Million Artilleriegeschosse zu liefern. Trotz ständiger Solidaritätsappelle bekommt die Ukraine zu wenig Luftabwehrsysteme, um sich gegen die russische Offensive zu wehren.

Corona: Eine Frage von Leben und Tod

Insgesamt aber geht die EU aus Krisen der vergangenen Jahre gestärkt hervor. Dass sie sterben könnte, wie Macron argwöhnt, ist unwahrscheinlicher denn je. So steht die Gemeinschaft die Corona-Pandemie ab 2020 gemeinsam durch, indem sie anfängliche nationalistische Reflexe und Abschottungsversuche überwindet. Im Namen der Mitgliedsstaaten organisiert Brüssel den Ankauf von Impfstoffen. Der erscheint vor allem kurz nach dem Ausbruch der Pandemie, als unklar ist, wie gefährlich das Virus wird, als Frage von Leben und Tod.

Indem die oft als abstrakt wahrgenommene EU liefert, kommt sie Bürgerinnen und Bürgern näher als je zuvor. Die erleben außerdem, dass die Gemeinschaft gegen die wirtschaftlichen Folgen ein gigantisches Hilfsprogramm auflegt, für dessen Schulden die Mitgliedsstaaten zusammen einstehen.

Der Brexit eint

Auch die Brexit-Debatte ab 2016 und Großbritanniens Austritt treiben die Union nicht – wie befürchtet – auseinander, sondern schweißen sie sogar zusammen. Seit den Anfängen der europäischen Integration ist die Aufnahme in die Gemeinschaft mit dem Versprechen verbunden, dass sich nationaler Wohlstand besser im Verbund mehren lässt als alleine. Dass die Briten dieses Versprechen anzweifeln und ihr Heil stattdessen in der "splendid isolation" suchen, schockt den Rest. Als Schicksalsgemeinschaft haben sie die EU ohnehin nie verstanden, so wie Deutschland und Frankreich das tun.

Aber die 27 EU-Mitglieder treten den Abtrünnigen nach anfänglicher Schockstarre geschlossen entgegen. Die sichtbaren Folgen des EU-Austritts auf der Insel nehmen Nachahmern auf dem Kontinent den Wind aus den Segeln. Austrittsrufe in Frankreich oder Dänemark sind verstummt. Nach dem Brexit ist die Mehrheitsmeinung in den 27 EU-Staaten gefestigter denn je: besser drinnen als draußen.

Migration und die offene Flanke der EU

Ab 2015 drängen Millionen in die EU – als Folge von Kriegen oder weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive sehen. Der hilflose und unkoordinierte Umgang mit diesen Menschen offenbart die offene Flanke der Union: Sie verfügt nicht (mehr) über eine abgestimmte Asyl- und Migrationspolitik. Zu verschieden sind die Interessen der Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen von denen im Inneren; Ungarn und Polen verweigern sich einer gemeinsamen Lösung ganz.

Mit ihrem Asylpaket hat die EU diesen jahrelangen quälenden Streit jetzt beigelegt. Sie verlagert Verfahren an die Außengrenzen und schließt Abkommen mit Transit- und Herkunftsländern. Besonders wichtig: Die Regierungen vereinbaren, bei der Verteilung von Migranten auf die EU-Länder solidarisch vorzugehen. Damit wird die EU in diesem hochgradig sensiblen Politikbereich wieder handlungsfähig – gerade noch rechtzeitig, um aus Sicht der Befürworter Rechtspopulisten bei der Europawahl nicht zusätzliche Angriffsfläche zu bieten.

Europa als Wirtschafts- und Friedensprojekt

Migration steuern, eine weltweit grassierende Krankheit eindämmen, den Klimawandel bekämpfen, im Wettbewerb mit dem Partner USA und dem Systemrivalen China bestehen – das können Europas Staaten nur gemeinsam bewältigen. Wenn es die EU nicht schon gäbe, hätte sie spätestens jetzt erfunden werden müssen. Krisen gehörten immer dazu in den sieben Jahrzehnten seit Gründung der Montanunion, dem Ausgangspunkt europäischer Integration.

Manchmal folgten ihnen umso mutigere Schritte hin zu mehr Europa. Am 9. Mai 1951 schlägt der französische Außenminister Robert Schuman vor, die Kohle- und Stahlindustrie der westeuropäischen Staaten zu vereinen. Kein Land soll mehr Kriegswaffen herstellen können, um sie gegen ein anderes zu richten – ein Projekt für Frieden und gemeinsamen Wohlstand. 1957 wird mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet und damit eine neue Ära der immer engeren Zusammenarbeit eingeläutet. Der Maastricht-Vertrag schafft 1992 die Grundlagen für die Europäische Union und den Euro. 2004 überwindet die Gemeinschaft mit dem Beitritt von zehn neuen Ländern die Spaltung in Ost- und Westeuropa.

Europa wählt: Das Parlament gewinnt an Bedeutung

Das Europäische Parlament gewinnt in diesem Zeitraum deutlich an Einfluss. Zunächst werden dessen Mitglieder von den nationalen Parlamenten nach Straßburg und Brüssel entsandt. Vor 45 Jahren wählen Bürgerinnen und Bürger die EU-Abgeordneten erstmals direkt. Seitdem ringen Europas Volksvertreterinnen und -vertreter mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission um Macht und Mitspracherechte. Mit einigem Erfolg: Das Parlament entscheidet über den EU-Haushalt mit. Es prägte Europas Plan für eine nachhaltige Zukunft, den Green Deal. Es treibt die Kommission an, Regierungen Gelder zu kürzen, wenn die ihre Justiz oder Minderheiten gängeln. Es billigte die Asylreform.

Mit dem wachsenden Einfluss des Parlaments auf Europas Gesetzgebung bekommen auch die Stimmen der Wählerinnen und Wähler größeres Gewicht. Das wollen rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien nutzen. Sie fordern weniger Klimaschutz, weniger Zuwanderung, weniger Diversität und könnten damit laut Umfragen bei der Wahl zulegen. Von einer Gestaltungsmacht im Parlament bleiben sie aber weit entfernt. Europa bleibt also – Macron zum Trotz – äußerst lebendig, mit all seinen Stärken und Schwächen.

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