Illustration: KZ-Häftling liegt in gestreifter Häftlingskleidung auf einer Pritsche
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KZ Dachau: Der letzte Häftling trug die Nummer 161.896

KZ Dachau: Der letzte Häftling trug die Nummer 161.896

Zwei Tage vor der Befreiung, am 27. April 1945, kommt ein Mann nach Dachau. Auf der Liste der Häftlinge im KZ steht sein Name an letzter Stelle. Wer war er? Was ist aus ihm geworden? Die Recherche führt quer durch Europa bis zur Familie nach Polen.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Die letzte Häftlingsnummer im KZ Dachau lautet: 161.896. Der Name Mieczyslaw Charecki. Geboren am 8.12.1915 in Leningrad. Vor dem Namen steht "Sch" für Schutzhaft. Charecki war also politischer Häftling, kein Jude. Und dann ist noch ein "P" verzeichnet. Er war Pole, obwohl er in Leningrad zur Welt gekommen war.

Die beiden Autoren Thomas Muggenthaler und Christian Stücken machen sich für die "Kontrovers"-Story auf die Suche nach dem letzten Häftling von Dachau. Die Puzzlestücke von Chareckis' Biografie zeugen von Krieg, Krankheit und Tod. Aber es ist auch eine Geschichte vom Überleben.

Zufällige Festnahme

Bis zu seiner Befreiung aus dem KZ Dachau hat Charecki eine grausame Odyssee durch insgesamt drei Konzentrationslager hinter sich. Am 2. Januar 1944 wird er im KZ Majdanek inhaftiert. In der heutigen Gedenkstätte ist ein Fragebogen archiviert, den Charecki 1974 ausgefüllt hat – wahrscheinlich um Rentenansprüche geltend zu machen. Darin beantwortet er unter anderem die Frage, warum er ins KZ musste.

Am 15. September 1943 sei er in einem Zug in Minsk verhaftet worden. Er sei auf dem Weg zur Arbeit gewesen, dann habe es eine Explosion in dem Zug gegeben, erklärt er in dem Fragebogen. Mit ihm wurden 26 weitere Männer festgenommen. Anna Wójcik ist Archivarin in der Gedenkstätte, sie erklärt: "Charecki schreibt, dass er auf dem Feld III war. Dieses Feld wurde von den Häftlingen als Todesfeld bezeichnet, weil die Lebensbedingungen dort so schwierig waren." Todesfeld – das heißt: Terror der SS. Gewalttätige Kapos. Krankheit und Hunger. Von Januar bis März 1944 ist Charecki hier, bis er ins KZ Natzweiler-Struthof im besetzten französischen Elsass deportiert wird.

  • Zum Artikel: "Gedenkstätten: Erinnerungen hängen an Dingen und Orten"

Sechs Wochen im Krankenrevier

Ab 1941 inhaftiert die SS in Natzweiler und den Außenlagern 50.000 Menschen. Mieczyslaw Charecki liegt sechs Wochen nach seiner Ankunft im Krankenrevier. René Chevrolet von der KZ-Gedenkstätte schildert die unhygienischen, menschenunwürdigen Zustände von damals: "Die Zahl der Kranken war im Sommer 1944 so hoch, dass eine Baracke für sie nicht mehr ausreicht. Sie lagen in Dreifachstockbetten übereinander. Viele waren an der Ruhr erkrankt. Wenn also ein Häftling der ganz oben lag, Durchfall hatte, dann fielen die Exkremente auf die Körper und Gesichter der darunter Liegenden."

Von Mieczyslaw Charecki ist ein detailliertes Dokument erhalten: Sein Krankenblatt. Darauf ist seine Fieberkurve verzeichnet und der Vermerk, dass er an einem Magengeschwür litt sowie schweren Husten hatte. Es gibt sogar eine Skizze seiner Lunge. Der Lagerarzt war davon ausgegangen, dass Chareckis' Lungenprobleme vom Arbeiten in einem Tunnel herrührten. Vieles spricht dafür, dass es sich um den Tunnel von Sainte-Marie-aux-Mines handelt. Hier sollen die Häftlinge einen bestehenden Eisenbahntunnel zu einer Werkshalle umbauen, um entsprechend vor Luftangriffen geschützt zu sein. Schwerstarbeit für die Häftlinge. Zwölf Stunden pro Tag. Schienen rausreißen, Steine schleppen, den Boden betonieren. "Vernichtung durch Arbeit". Den ganzen Sommer 1944 schuftet Charecki hier. Den Tunnel gibt es noch, inzwischen führt eine Schnellstraße hindurch.

Der letzte Häftling von Dachau

Todesmarsch ins KZ-Dachau

Nach ihrer Landung in der Normandie befreien die Amerikaner Ende August 1944 Paris und rücken weiter Richtung Deutschland vor. Mieczyslaw Charecki wird unterdessen vom KZ Natzweiler-Stuthof im Elsass in das Lager Neckargartach bei Heilbronn verschleppt – 60 Kilometer östlich vom Rhein entfernt. Fast jeder dritte Häftling stirbt dort. Krankheit. Kälte. Grabungsarbeiten an einem Salzstollen – "Vernichtung durch Arbeit" – das Konzept der SS wird auch hier praktiziert. Im März 1945 erreichen die US-Streitkräfte den Rhein. Jetzt wird das Lager bei Neckargartach bei Heilbronn plötzlich geräumt.

Am 1. April 1945 kommt um 9 Uhr der Befehl zum Abmarsch. Drei Stunden später setzten sich die völlig entkräfteten Häftlinge, die von Bewachern und Hunden flankiert werden, in Bewegung. Sie haben 350 Kilometer vor sich. Wer vor Schwäche liegenbleibt oder fliehen will, wird erschossen. Charecki kommt am 27.4.1945 in Dachau an. Das KZ ist zu diesem Zeitpunkt völlig überfüllt. Flecktyphus geht um. Die Ernährungssituation ist katastrophal. Zwei Tage später, am 29.4.1945, erreichen die Amerikaner Dachau. Für die mehr als 30.000 Häftlinge im Lager ist der lang ersehnte Tag gekommen. Auch für Mieczyslaw Charecki.

Häftling will nicht in die Heimat

Doch wie geht es nach dem Kriegsende weiter mit dem letzten Häftling von Dachau? Charecki kehrt offenbar nicht gleich nach Polen zurück, wie Dokumente in den Arolsen Archives bei Kassel belegen. Es handelt sich das weltweit größte Archiv für NS-Opfer. Hier gibt es Dokumente zu 17 Millionen Menschen. Mieczyslaw Charecki ist auch unter ihnen. In den Akten befindet sich unter anderem ein Portraitfoto von ihm. Außerdem taucht sein Name in den Unterlagen über DP-Camps, die Auffanglager für alle Entwurzelten, die "Displaced Persons", auf.

Charecki befindet sich wenige Tage nach der Befreiung in einem DP-Center in München-Freimann, danach wird es rätselhaft. Anke Münster von den Arolsen Archives erläutert eine Karteikarte: "Es steht drauf: Do not return home, political reasons! Germany! Also, das heißt, er wollte zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht repariert werden." Doch warum? Er wird nach dem Krieg noch mehr als drei Jahre in Deutschland bleiben.

Agententätigkeit nach dem Krieg?

In Bad Arolsen ist auch noch ein handschriftlicher Brief von Mieczyslaw Charecki archiviert. Er stammt aus dem Jahr 1971 und darauf steht seine damalige Wohnadresse. Ein Ort in der Nähe von Breslau. Tatsächlich lebt sein Enkel noch heute dort und die Familie ist bereit Auskunft zu geben. Die Familie kann einige der vielen, noch offenen Fragen beantworten: Charecki wurde in St. Petersburg geboren, weil sein Vater dort Arbeit gefunden hatte. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er Soldat in der polnischen Armee. Und dann zeigt die Familie ein Foto: Mieczyslaw Charecki in einem Mantel mit Pelzkragen, datiert auf das Frühjahr 1948. "Papa hat erzählt, dass dieses Foto in Paris gemacht worden ist. Wo und wie, weiß ich nicht. Als er aus Paris gekommen ist, hat er es meiner Mutter gegeben als Erinnerung", erzählt Kazimierz Charecki, der Sohn von Mieczylslaw.

Paris? Was hat er dort gemacht? Belege oder Unterlagen aus dieser Zeit hat die Familie nicht. Aber Enkel Marek meint: "Einmal hat er davon gesprochen, dass er damals für die Amerikaner gearbeitet hat. Er hat erzählt, dass er Geld über die Grenze gebracht hat. Er hat nicht erzählt für wen genau und wie viel. Ich denke, das ist ihm so rausgerutscht." Haben die Amerikaner Charecki als Kurier rekrutiert? Oder war ein Agent im Kalten Krieg? Diese Fragen lassen sich wohl nicht mehr beantworten.

Eines von Millionen Schicksalen

Die Geschichte des letzten Häftlings von Dachau ist eine von Millionen Schicksalen, die durch die grausamen Umstände des SS-Regimes maßgeblich geprägt wurden. Mieczyslaw Charecki war vor dem Krieg Soldat, er wurde zufällig verhaftet und hat drei Konzentrationslager überlebt. Was er nach dem Krieg genau gemacht hat, bleibt offen. Er ist 84 Jahre alt geworden. Mieczyslaw Charecki liegt in seinem Heimatland Polen an der Seite seiner Frau Eugenia begraben.

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