Spurensuche in Laberweinting-Hinterbach, einer kleinen Gemeinde im niederbayerischen Landkreis Straubing-Bogen, 40 Kilometer südlich von Regensburg. Es regnet in Strömen, als Landwirt Josef Kerscher in der vergangenen Woche das Vorhängeschloss der fast 600 Quadratmeter großen Lagerhalle auf seinem Grundstück aufschließt.
Die Gemeinde hat fast 3.500 Einwohner – einen Drogenumschlagplatz würde man hier nicht vermuten. Kerscher zieht langsam das weiße Wellblechtor auf. In der rechten Ecke der Halle sind noch immer 25-Kilo-Plastiksäcke mit Marmor-Kies und Marmor-Splitt gestapelt. Reste von dem, was hier gelagert wurde und einem anderen Zweck diente.
Hunderte Kilo Captagon-Tabletten in Kiessäcken
Das wird am frühen Abend des 10. Mai 2021 klar: Um kurz nach halb sechs stehen Einsatzkräfte des LKA Bayern und vom Zoll auf dem Grundstück von Josef Kerscher. Bei einer Durchsuchung der Halle finden sie über 230 Kilogramm Captagon-Tabletten, im Kies versteckt in 22 Säcken. Zum damaligen Zeitpunkt hat ein Mann aus Syrien die Halle gemietet. "Der hat gehandelt mit Waren, Import-Export - hat er gesagt. Mit Saudi-Arabien, Syrien", erinnert sich Kerscher heute.
Der Syrer sei der Liebling seiner Frau gewesen, habe Blumen und auch mal Pralinen gebracht: "Der war nett, da gibt´s überhaupt nix." Die Hallenmiete habe er nicht immer pünktlich bezahlt, aber stets in bar, "mit einem Bündel aus Einhundert-Euro-Scheinen", weil aus Syrien keine Überweisungen möglich seien, so die Begründung des Mannes.
Dieser Captagon-Fund in Laberweinting im Mai 2021 ist nicht der einzige. "Im Moment haben wir eine Häufung der Fälle hier in Deutschland", sagt Lutz Preissler vom Bundeskriminalamt. Er ist dort zuständig für den Bereich synthetische Drogen. Am Landgericht Aachen müssen sich momentan vier Männer aus Syrien verantworten. Sie sind wegen bandenmäßigen Handels mit Captagon angeklagt. Im Sommer vergangenen Jahres hoben Ermittler des Bundeskriminalamts im Raum Regensburg sogar ein Labor aus. Sie erwischten zwei Männer in Flagranti bei der Pressung von Captagon-Tabletten.
Entdeckung von Captagon-Labor in Regensburg hat "überrascht"
"Dass nun plötzlich eine eigene Produktionsstätte direkt in der Stadt existiert, das, glaube ich, hat viele überrascht und ein paar wenige auch wachgerüttelt", so André Baumgarten, Zeitungsredakteur bei der Mediengruppe Bayern. Er hat gemeinsam mit BR, MDR, rbb, SWR und der F.A.Z. zum Themenkomplex Captagon recherchiert. Zwei Jahre lang haben die Reporter interne Ermittlungsunterlagen ausgewertet, Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland befragt, mit Fachleuten aus Ministerien und Ermittlungsbehörden gesprochen.
Bis heute gelten die EU und Deutschland vor allem als Umschlagplätze für den Captagon-Schmuggel. Eine zunehmende Rolle Deutschlands als Transitland könnte nicht ausgeschlossen werden, so die Einschätzung der Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Unions-Bundestagsfraktion. Sie liegt dem Rechercheteam exklusiv vor.
Die vor allem in Syrien und dem Libanon hergestellten Pillen werden hierher geschmuggelt und dann, so wie in Laberweinting, in Tarnware umverpackt. Kriminelle Netzwerke schicken sie dann vor allem nach Saudi-Arabien. Beim direkten Transport aus Syrien wäre das Entdeckungsrisiko zu groß. Dass die Herstellung von Captagon-Tabletten jetzt auch hier läuft, hat auch nach Einschätzung der Behörden eine neue Qualität – "weil man für den Tablettierprozess noch ein bisschen mehr an Geräten braucht. Das ist schon eine etwa andere Dimension als den Schmuggel zu organisieren", räumt Lutz Preisler vom BKA ein.
Die Recherchen von BR, MDR, rbb, SWR, Mediengruppe Bayern und F.A.Z. zeigen zudem, dass es zwischen einzelnen Captagon-Fällen im In- und Ausland personelle Überschneidungen gibt. So soll hinter dem Laberweintinger Captagon-Fund derselbe Drahtzieher stehen, wie in einem Fall in Österreich. Dort ermittelten die Behörden auch nach einem Hinweis der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA im März 2018. "Das scheint einer der Männer im Hintergrund zu sein, die den internationalen Captagon-Handel wohl maßgeblich gesteuert haben sollen in den letzten Jahren", sagt André Baumgarten von der Mediengruppe Bayern.
Captagon – eine Droge des Terrors?
Was ist der Effekt von Captagon? Nach Einschätzung von Shlomo Shpiro, Terrorismusexperte von der Bar-Ilan-Universität in der israelischen Stadt Ramat Gan, macht es "sehr energetisch, man braucht wenig Schlaf und es fördert auch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, und deswegen wird es auch von Terroristen benutzt". Ursprünglich handelte es sich bei Captagon um den Namen eines Medikaments, das in den 60er Jahren auf den Markt kam, zur Behandlung von ADHS etwa. Rund 20 Jahre später verschwand es wieder, wegen seiner schweren Nebenwirkungen und des hohen Suchtpotentials.
Heutzutage liegen die Herstellungskosten pro Captagon-Tablette im Cent-Bereich. Im Straßenverkauf in Saudi-Arabien kann eine Tablette hingegen um die 15 Dollar kosten. Seit Jahren gilt als gesichert, dass das Assad-Regime in Syrien finanziell von der Captagon-Produktion profitiert. Auch Terror-Gruppen wie die Hisbollah finanzieren nach Erkenntnissen internationaler Behörden ihre Aktivitäten mit dem Verkauf von Captagon und anderen Drogen.
Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) sollen sie im syrischen Bürgerkrieg genommen haben, wie Kino Gabriel von den Syrian Democratic Forces (SDF) sagt. Die SDF sind ein Militärbündnis, das sich als demokratisch bezeichnet und in Syrien gegen den IS gekämpft hat. "Ab 2012 oder 13 haben wir erstmals den Konsum dieser und anderer Drogen gesehen – während der Kämpfe. Und das hat sich bis heute vorgesetzt", sagt Gabriel im Interview mit report München.
Experte: Auch Hamas-Terroristen vom 7. Oktober nahmen Captagon
Auch bei den Überfällen der Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres war Captagon im Spiel, so Terrorismusexperte Shpiro: "Auf den Leichen vieler Hamas-Terroristen wurden nicht nur Waffen und Munition, sondern auch viele Schachteln von Captagon oder Captagon-ähnliche Mittel gefunden." Israelische Medien haben Videos veröffentlicht, die Hamas-Terroristen unmittelbar vor dem Anschlag aufgenommen haben. Darauf zu sehen sind nach Einschätzung von Experten Tütchen mit Captagon-Tabletten. Nach Angaben der Bundesregierung ist es – losgelöst von den Ereignissen in Israel – "belegt, dass Captagon und andere synthetische Drogen von Terrororganisationen und Milizen genutzt werden, um Kämpfern Angst und Hemmungen zu nehmen".
Die Hamas und andere Organisationen töteten bei ihren Angriffen in Israel rund 1.200 Menschen, über 200 nahmen sie in Geiselhaft. Darunter auch Louis Har, den sie nach Gaza verschleppten. Anfang Februar befreiten ihn Soldaten einer Spezialeinheit: nach 129 Tagen Geiselhaft. In einem Exklusiv-Interview mit dem ARD-Studio Tel Aviv erinnerte er sich: "Sie fuhren wie verrückt, und standen alle unter Drogen. Ihre Augen waren geweitet, und wir wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten, was wir sagen sollten. Wir hatten keine Chance." Ob es sich bei den Drogen um Captagon handelte, kann Har natürlich nicht sagen.
Hardt: Captagon auch in Deutschland wirksam bekämpfen
Nicht zuletzt diese Ereignisse haben dafür gesorgt, dass Deutschlands Rolle im Captagon-Schmuggel inzwischen auf der bundespolitischen Bühne angekommen ist. Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestags hat sich kürzlich mit dem Thema beschäftigt. Der außenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Jürgen Hardt appelliert gerade auch wegen der Suchtprobleme von jüngeren Menschen im Nahen und Mittleren Osten an die Bundesregierung, einer "Welle der Überschwemmung mit Captagon" hierzulande wirksam zu begegnen.
Hinweis:
Mehr zu diesem Thema gibt es heute Abend ab 21.45 Uhr bei report München im Ersten. Außerdem hören Sie morgen dazu ab 12.20 Uhr die Sendung Funkstreifzug auf BR24 Radio. In der ARD-Mediathek finden Sie eine ausführliche Doku zu dem Thema.
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