Vor allem junge Menschen strömen seit nun mehr acht Tagen trotz eines Demonstrationsverbots auf die Straßen von Istanbul, Ankara, Izmir, aber auch Trabzon, Bursa oder Rize, dem Heimatort von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Längst geht es nicht mehr nur um die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu von der oppositionellen CHP. Der größtenteils friedliche Protest richtet sich immer deutlicher gegen die Regierung von Erdogan.
Unzufriedenheit über Job-Chancen und Einschränkungen
Außerdem hat sich über die Jahre eine große Wut aufgestaut: Es geht um die hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen, um schlechte Job-Chancen, weil gerade bei Behörden oft Kandidaten, die der AKP von Erdogan nahestehen, bevorzugt werden, um Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. "Ich bin gar kein Anhänger von Imamoglu, aber hier geht es um die Demokratie und unsere Zukunft", sagt ein junger Mann bei einer Demonstration.
Weil das staatliche Fernsehen und auch viele private TV-Sender die Proteste nicht übertragen, verfolgen Abend für Abend viele Menschen die Streams von den Protesten vor dem Istanbuler Rathaus. Wer abends durch Istanbul spaziert, hört aus vielen Wohnzimmern und Cafés die Live-Übertragung von CHP-Chef Özgür Özel, der heiser in die Menge ruft: "Alles wird" .... und die Demonstranten und Demonstrantinnen rufen im Chor zurück "gut".
"Alles wird sehr gut werden"
Dieser CHP-Schlachtruf, der wörtlich übersetzt "Alles wird sehr gut" (Her sey cok güzel olacak) bedeutet, stammt ursprünglich von einem jungen Mann. Berkay Gezgin hatte diesen Satz 2019 Imamoglu vor der Bürgermeisterwahl zugerufen: "Bruder Ekrem, alles wird gut", sagte der junge Mann damals. Die CHP übernahm den Satz dann als Wahlkampf-Slogan. Nun wurde eben dieser 22 Jahre alte Berkay Gezgin – wie so viele andere – in Istanbul festgenommen – weil er sich den Protesten angeschlossen hat. "Lasst mich nicht in Vergessenheit geraten", sagte der junge Mann noch laut seinem Anwalt (externer Link auf Türkisch).
Berichten zufolge wurden seit Beginn der Proteste bereits mehr als 1.400 Menschen festgenommen, gegen 172 erging Haftbefehl. Unter den Festgenommenen sind mehrere Journalisten.
CHP und Erdogan buhlen um die Jugend
Unterdessen versuchen sowohl die CHP als auch Staatspräsident Erdogan, die jungen Menschen für sich zu gewinnen und zu vereinnahmen. "Unsere Jugend springt über die Mauer der Angst, die Sie aufbauen wollen", schrieb der Istanbuler Provinzvorsitzende der CHP Özgür Celik auf der Plattform X (externer Link auf Türkisch) und lobte den Mut der jungen Demonstranten.
Erdogan bittet wiederum "unsere Jugend, wachsam zu sein", und warnt sie vor "losem Mundwerk" und "schlechter Moral" (externer Link auf Türkisch). Seit Tagen bezeichnet er die Demonstranten als Terroristen, spricht von einer "Gewaltbewegung".
Große Demonstration am Wochenende
Beobachter erwarten, dass sich die Proteste ausweiten. Heute Abend, in der sogenannten "Nacht der Bestimmung", einer heiligen Nacht im Fastenmonat Ramadan, wird es in Istanbul eine Demonstration und ein gemeinsames Fastenbrechen vor dem Rathaus geben. Für das Wochenende ist zudem eine große Demonstration auf der asiatischen Seite von Istanbul geplant – voraussichtlich die größte seit Beginn der Proteste. Zu der Demonstration sollen auch Unterstützer aus anderen Landesteilen anreisen.
Imamoglu gilt als Erdogans potenziell aussichtsreichster Herausforderer bei der für 2028 angesetzten Präsidentenwahl und wurde von der größten Oppositionspartei als Kandidat aufgestellt. Er war am vergangenen Mittwoch unter Korruptions- und Terrorvorwürfen festgenommen und am Sonntag als Bürgermeister abgesetzt worden. Imamoglu selbst bestreitet alle Vorwürfe und wirft der Regierung vor, ihn mit den Ermittlungen politisch kaltstellen zu wollen.
Mit Informationen von dpa
Im Audio: 11KM - Massenproteste in der Türkei - Erdogans Poker um die Macht
26.3.2025: Protest in Ankara
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