Ukrainische Soldaten gedenken eines gefallen Kameraden.
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Ukrainische Soldaten mit dem Bild und dem Sarg eines gefallenen jungen Kommandeurs (am 19. Oktober 2023 in Kiew)

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Was bedeutet die Eskalation in Nahost für die Ukraine?

Was bedeutet die Eskalation in Nahost für die Ukraine?

Immer neue Bilder von Kämpfen in Israel und Gaza gehen seit zwei Wochen um die Welt – der Krieg in der Ukraine scheint in den Hintergrund zu rücken. Welche Folgen die Eskalation in Nahost für Kiew haben und ob die Hilfe des Westens nachlassen könnte.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Seit dem 7. Oktober und dem brutalen Überfall der Terrorgruppe Hamas auf Israel hält die Welt den Atem an. Über Fernseh- und Smartphone-Bildschirme flimmerten erst Bilder von verwüsteten israelischen Gemeinden und nach Gaza verschleppten Menschen und – seit dem Beginn der israelischen Gegenschläge – die von zivilen Opfern im Gaza-Streifen, zerstörten Häusern und Hunderttausenden auf der Flucht.

Was bei all dem in den Hintergrund gerückt zu sein scheint, ist der Krieg, der in den mehr als eineinhalb Jahren zuvor die Schlagzeilen dominiert hat: derjenige in der Ukraine, ausgelöst durch den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf das Nachbarland am 24. Februar 2022. Kiew ist auf Militärhilfen der westlichen Partner angewiesen, um sich zu verteidigen. Nur müssen sich diese westlichen Partner nun mit zwei großen Brandherden beschäftigen. Hat die Eskalation in Nahost Auswirkungen auf den ukrainischen Kampf gegen Moskaus Invasion und die eigene Gegenoffensive?

Kampf um Ressourcen

Durch die beiden Kriege könnte es eine Ressourcen- und Aufmerksamkeits-Konkurrenz geben, meint Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. "Unter Diplomaten in Brüssel fürchtet man, dass westliche Staaten - die nur ein bedingtes Arsenal haben, das sie zur Verfügung stellen können - diese nun auf die Ukraine und Israel aufteilen müssen", sagt Mangott im Gespräch mit BR24.

Passend zu diesen Befürchtungen gab es jüngst einen Bericht des Nachrichtenportals Axios. Demnach sollen Artkellergeschosse, die für die Ukraine vorgesehen waren, an Israel geliefert worden sein. Das hätten drei israelische Regierungsoffizielle Axios bestätigt. Ob das ein Einzelfall war, bleibt abzuwarten.

Pistorius: "Keine Konkurrenz zwischen den Ländern"

In Berlin will man trotz der Lage in Nahost die Unterstützung für die Ukraine nicht zurückfahren. Deutschland ist bei Waffenlieferungen der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Und diese Hilfen werde laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) weitergehen. "Wir stellen uns darauf ein, dass der Krieg noch lange dauert", sagte Pistorius dem "Handelsblatt". In Bezug auf Israel und die Ukraine erklärte er: "Ich sehe keine Konkurrenz zwischen den Ländern um Rüstungsgüter". Israel sei ohnehin "sehr gut ausgerüstet".

Experte Mangott hält Pistorius' Äußerung für "verfrüht". Auch Pistorius könne "nicht wissen, ob dieser Krieg eine zweite oder gar dritte Front bekommt durch einen Aufstand im Westjordanland. Und er weiß auch nicht, wie lange dieser Krieg dauern wird". Je länger der Krieg dauert und je mehr Fronten es gibt, "umso eher ist auch das hochgerüstete Israel auf westliche Militärunterstützung angewiesen".

Im Umkehrschluss heißt das für Mangott allerdings auch: "Wenn es in Nahost ein kurzer Krieg werden sollte, dann sind die Folgen für die Ukraine relativ überschaubar."

100 Milliarden Dollar: Biden will neues Hilfspaket

US-Präsident Biden steuerte bereits dem möglichen Eindruck entgegen, dass die Ukraine keine Priorität mehr habe. In einer seiner seltenen Ansprachen aus dem Oval Office kündigte er ein neues militärisches Hilfspaket an. Der Umfang: laut US-Medien mehr als 105 Milliarden US-Dollar, umgerechnet 99,2 Milliarden Euro.

Der Großteil davon – rund 60 Milliarden Dollar – soll demnach an die Ukraine gehen, 14 Milliarden an Israel. Laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums hat Washington bisher militärische Ausrüstung im Wert von rund 44 Milliarden Dollar (41,6 Milliarden Euro) an Kiew geliefert.

Chaos bei den Republikanern könnte Hilfe erschweren

Ob das Hilfspaket so kommt, hängt aber vom Kongress ab, der es verabschieden muss. Und da sorgt – unabhängig von der Lage in Israel und Gaza – das Chaos der Republikaner für Zweifel, ob es zeitnah weitere Ukraine-Hilfen geben wird.

Anfang des Monats wurde ein Übergangshaushalt verabschiedet, in dem keine weiteren Gelder zur militärischen Unterstützung für Kiew vorgesehen waren. Dann sorgte eine Gruppe rechter Hardliner dafür, dass der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, abgewählt wurde – zum ersten Mal in der Geschichte der USA. Noch immer ist kein Nachfolger gewählt worden, aktuell ist die Kammer quasi handlungsunfähig.

Gescheiterter Sprecher-Kandidat stimmte gegen Ukraine-Hilfen

Der letzte Kandidat der Republikaner für den Chefposten im Repräsentantenhaus, der ultrakonservative "Trump-Jünger" Jim Jordan, hat es in drei Versuchen nicht geschafft, genügend Stimmen aus der eigenen Partei zu bekommen. Nun will er nicht mehr für das Amt antreten.

Er hatte in der Vergangenheit gegen die Ukraine-Hilfen gestimmt, mit der Begründung: "Das dringendste Thema in den Köpfen der Amerikaner ist nicht die Ukraine, sondern die Situation an den Grenzen und die Kriminalität auf den Straßen." Zuletzt zeigte er sich zwar offen für weitere Hilfen für Kiew. Doch Beobachter sahen darin lediglich einen Versuch, mehr Leute auf seine Seite zu ziehen.

Wann das Repräsentantenhaus wieder arbeitsfähig ist und ob das Hilfspaket dann schnell verabschiedet wird, bleibt abzuwarten. Dass Biden aber nun die Unterstützung für die Ukraine und für Israel in ein Hilfspaket packen will, könne man als klugen Schachzug sehen, sagt Militärexperte Mangott von der Universität Innsbruck. "Das war das Einzige, was Biden jetzt Sinnvolles tun konnte." Durch den Einfluss der evangelikalen Rechten in den USA, die stark pro Israel eingestellt sind, "können sich die Republikaner vor einem Präsidentschafts-Wahljahr nicht leisten, Hilfe an Israel zu verweigern".

Kampf um Aufmerksamkeit

Neben den militärischen Ressourcen gibt es laut Mangott auch ein Ringen um Aufmerksamkeit. Ohnehin sei in einigen Staaten eine Kriegsmüdigkeit festzustellen, "weil der Krieg nun schon 20 Monate dauert".

Wenn nun durch den Krieg in Gaza weniger über die Ukraine berichtet werde, dürfe die emotionale Unterstützung für Kiew im Westen abnehmen. Die Politik werde sich bemühen, Aufmerksamkeit für beide Konflikte zu wahren. Aber die Priorität sei aktuell, eine Ausweitung des Krieges in Nahost zu verhindern. "Da rückt in die Ukraine schon mal in den Hintergrund", sagt Mangott. Und je geringer diese emotionale Unterstützung ist, desto schwieriger dürfte es zukünftig für Regierungschef sein, weitere Ukraine-Hilfen zu verteidigen.

Werben um den Globalen Süden "zunichtegemacht"

Konkrete Folgen der Eskalation in Nahost dürfte es zudem für die Beziehungen zwischen dem Westen und den Ländern des Globalen Südens geben. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine versuchen die USA und andere, Länder des Globalen Südens auf ihre Seite zu ziehen – um Russland international zu isolieren und den Druck auf Moskau auszubauen.

"Was man merkt durch Äußerungen einzelner politischer Vertreter aus dem sogenannten Globalen Süden, ist, dass man hier auf die Doppelmoral des Westens hindeutet", erklärt Mangott im Gespräch mit BR24: einerseits die Besetzung durch Russland im Osten der Ukraine beenden zu wollen und andererseits die im Westjordanland durch Israel seit Jahrzehnten zu dulden.

Wegen der Eskalation des Nahost-Konfliktes werden laut Mangott die anti-westlichen Stimmen im Globalen Süden gestärkt, die es davor schon gegeben habe, aufbauend auf einer Anti-Kolonialismus-Position vieler Länder Afrikas. "Der Westen kann darauf kurzfristig nicht reagieren, weil er gegen die Vorwürfe nichts sagen kann."

Der Professor für Internationale Beziehungen resümiert: "Das ganze Bemühen, das wir in den letzten Monaten gesehen von den westlichen Staaten, allen voran die USA, gesehen haben, um Afrika zu umwerben, um dort die Stimmung gegen Russland zu lenken – diese Bemühungen sind weitgehend zunichtegemacht worden."

So steht es um die ukrainische Gegenoffensive

Seit Anfang Juni versucht die Ukraine, in einer Gegenoffensive von Russland besetztes Gebiet zurückzuerobern. Dabei kommt Kiew nach Einschätzung US-amerikanischer Geheimdienste nur mühsam und zu langsam voran. Zudem muss das Land neue Angriffe Russland abwehren, wie das gerade in der zerstörte Stadt Awdijiwka der Fall ist.

"Der Feind hat seine Angriffe wieder aufgenommen und gibt seine Versuche, Awdijiwka einzukesseln, nicht auf", teilte der ukrainische Generalstab jüngst mit. Man habe den Angriff aber abwehren können. Russland übe weiterhin Druck im Osten der Ukraine aus, erklärt Fachmann Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Die Angriffe erfolgen, "wohl um nicht unerhebliche Teile der ukrainischen Armee dort zu binden".

Zugleich meldete Kiew militärische Erfolge – und zwar solche, die die Bedeutung der ausländischen Militärhilfe deutlich machen. Mit den von den USA gelieferten ATACMS-Raketen konnten offenbar mehrere Hubschrauber hinter der Frontlinie zerstört werden. Laut britischem Verteidigungsministerium, das tägliche Lage-Bericht zur Ukraine veröffentlicht, sind die Angriffe für Moskau – wenn bestätigt – ein schwerer Schlag, da sich "diese Verluste höchstwahrscheinlich auf die Fähigkeit Russlands auswirken, diese Achse zu verteidigen und weitere Offensivaktivitäten durchzuführen".

Dieser Fall deckt sich mit der Einschätzung Mangotts. Für ihn hat die Sommeroffensive der Ukraine ein "doppeltes Gesicht": An der Frontlinie selbst, so Mangott, ist der Ukraine nicht viel gelungen. Es seien nur wenige Hundert Quadratkilometer zurückerobert worden. Dass die ukrainische Armee tief nach Süden vorstoßen könnte, sei angesichts der russischen Verteidigungslinien ein Wunschszenario gewesen.

Experte erwartet zunächst keine großen Gelände-Gewinne

Das andere Gesicht sei, dass die Ukraine im rückwärtigen Räumen Erfolge verzeichne, also in Gebieten weit ab von der Frontlinie – wie im Falle der offenbar zerstörten Hubschrauber. Die ukrainische Armee treffe mit diesen Angriffen Schiffe, Hafenanlagen, Flugplätze und Nachschub-Linien. Mangotts Fazit zu Kiews Sommeroffensive: "Im rückwärtigen Raum durchaus erfolgreich, an der Frontlinie selbst ein mäßiges Ergebnis."

Ukrainische Gelände-Gewinne in größerem Ausmaß erwartet Mangott in dieser Offensive nicht mehr. "Es wird wohl eine neue Offensive im späten Frühjahr brauchen, um wieder zu versuchen, diese Verteidigungslinien zu zerstören und weiter vorzustoßen."

Und dafür wird Kiew hoffen, dass die militärische Unterstützung des Westens nicht versiegt.

Ein schnelles Ende des Krieges in Israel und Gaza dürfte dabei helfen.

Im Audio: Biden will neue Milliardenhilfen für Israel und Ukraine

US-Präsident Joe Biden
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US-Präsident Joe Biden

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