Das Buch beginnt mit dem Tod. Alexej Nawalny hat ihn 2020 zum ersten Mal erlebt. In der Berliner Charité, wohin man Nawalny aus Omsk in Sibirien ausgeflogen hatte, wird man sein Leben retten. Der Befund: Eine Nowitschok-Vergiftung. Durch den nahen Tod, ist das Leben plötzlich kostbar geworden, Nawalny beginnt, es mitzuschreiben. Er ist zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre alt. Jetzt ist das Buch unter dem Titel "Patriot" posthum erschienen.
Beschwingt humorvoll und lakonisch breitet er seine Jugend in verschiedenen sowjetischen Militärsiedlungen aus, der Vater, der aus einem ukrainischen Dorf stammt, ist ein sowjetischer Raketenoffizier, die Mutter Ökonomin. Das Studentenleben – Alexej Nawalny entscheidet sich für Jura - langweilig, die Partys – peinlich, der letzte Bus in die Siedlung fährt um 21.28 Uhr. Dann eine lange Phase der Desillusionierung. Russland kommt auch nach dem Kollaps der Sowjetunion und einem kurzen euphorischen Aufbruch schnell wieder bei Korruption und Machtgekungel an.
Wie Nawalny zu Putins Gegner wird
Der Mittelteil des 540 Seiten starken Buches ist der Arbeit Nawalnys als Antikorruptionskämpfer und Oppositionspolitiker gewidmet. Er wird zum meist gefürchteten Gegner Wladimir Putins, der das Land immer autokratischer regiert. Nichts bleibt unversucht, um Nawalny auszuschalten, Schlägertrupps werden auf ihn angesetzt, man hängt ihm Gerichtsverfahren an, sperrt ihn immer wieder ins Gefängnis.
Je mehr die Machthabenden sich ihm in den Weg stellen, desto einfallsreicher und beißender Nawalnys Antwort darauf. Anhand vieler Details raut Alexej Nawalny eloquent und humorvoll die jüngste russische Geschichte und Wirklichkeit auf. Besonders gebannt liest man die Passagen nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland.
Am 17. Januar 2021 besteigt Alexej Nawalny zusammen mit seiner Frau, seiner Anwältin, der Pressechefin und einem Dutzend Journalisten ein Flugzeug nach Moskau. Er habe, schreibt Nawalny, morgens nach dem Aufwachen Schmetterlinge im Bauch gehabt – wegen eines Gefühls mulmiger Erwartung. Das Buch liest sich wie ein Krimi, die Bilder von seiner Verhaftung gleich nach seiner Ankunft in Moskau sind noch im Kopf, jetzt verschlingt man gebannt Zeile um Zeile über all das, was sich damals der Weltöffentlichkeit entzog. Die erste Nacht muss Alexej Nawalny in einer Zelle verbringen – er habe, schreibt er, nicht damit gerechnet, dass man ihn sofort verhaften werde.
"Patriot" wird im letzten Teil fragmentarisch
Seinen Kampfgeist lässt er sich auch im Gefängnis nicht nehmen. Genau ein Jahr später, am 17. Januar 2022 notiert Nawalny auf einem Zettel, den er aus dem Gefängnis herausschmuggeln kann: "Habt keine Angst, vor nichts. Dies ist unser Land und es ist das einzige, das wir haben."
"Patriot" wird im letzten Teil fragmentarisch. Zufall, wenn es gelingt, die Notizen des Gefangenen herauszuschmuggeln. Immer wieder muss Alexej Nawalny Isolationshaft über sich ergehen lassen, sie wollen ihn brechen, in die Knie zwingen, zu Tode foltern. Über diese Zeit schreibt er: "Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann."
Die Aufzeichnungen aus dem Gefängnis gleichen einer Chronik eines angekündigten Todes. "Patriot" hat Nawalnys Frau Julia Nawalnaja zusammengestellt und verdichtet, immer wieder ruft ihr Mann ihr aus der Haft zu, wie sehr er sie liebt. Und einmal flüstert er ihr ins Ohr: "Sie werden mich vergiften."
"Patriot. Meine Geschichte" von Alexej Nawalny wurde übersetzt von Rita Gravert, Norbert Juraschitz und Karin Schuler. Das Buch ist bei S. Fischer erschienen und kostet 28 Euro.
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