"Eine Barke auf dem Ozean" heißt das dritte von fünf Klavierstücken, die Maurice Ravel unter der Überschrift "Miroirs" – Spiegelbilder – vereint hat. Im Film kommt das titelgebende musikalische Motiv nur einmal vor, aber wie auf einer schwankenden Barke ringen die Protagonisten um ihr inneres Gleichgewicht. Hinzu kommt: Die Schlüsselfigur, Laura, gespielt von Paula Beer, ist eine Pianistin.
"Ich studiere in Berlin. Ich hatte vor ein paar Tagen einen Autounfall. Mein Freund ist dabei gestorben. Ich bin unverletzt, und die Betty hat mich gefunden und mir erlaubt, hier zu bleiben. Betty meinte, dass Ihr Königsberger Klopse mögt. Ich hoffe, es schmeckt." Erzählt sie im Film und das ist also die Vorgeschichte. Wobei die Königsberger Klopse, zu denen die vier Hauptfiguren erstmals zusammenfinden, keine Nebensache sind.
Laura ist ein Spiegelbild – oder ein Trugbild
Laura lebt seit ihrem Unfall bei Betty, Barbara Auer, auf dem Land, lässt sich von der etwas rätselhaften, älteren Frau bemuttern und geht ihr zu Hand. Beim Zaunstreichen etwa. Sie tun einander gut, ohne viel zu reden. Bis die Männer zum Essen kommen. Bettys Ehemann Richard und ihr Sohn Max, die seit längerem nicht mehr zu Hause, sondern quasi in ihrer Autowerkstatt leben, und von Laura noch nichts wissen.
Betti hat sie eingeladen, um ihnen die junge Frau zu präsentieren. Als sie eintreten, steht da ein vierter Teller auf dem Tisch. Bestürzt schauen sie ihn an. Und dann kommt sie – mit den Klopsen. Und die Männer kriegen kein Wort heraus.
Es wird schnell klar, dass Laura eine andere ersetzt, deren Tod die Familie zerrissen hat. Nur sie weiß es noch nicht. Sie ist ein Spiegelbild – oder ein Trugbild. Ein typisches Christian-Petzold-Motiv, in Anlehnung an Alfred Hitchcock. Doch einen Thriller macht er nicht daraus. Er knüpft – spiegelbildlich – an seinen letzten Film "Roter Himmel" an, eine Sommernachtskomödie, die in die Katastrophe mündete.
Ein Vexierspiel mit wechselnden Perspektiven
Diesmal beginnt es mit dem Tod, und dann arbeiten sich die angeschlagenen Protagonisten ihren Weg zurück ins Leben, wenn auch auf der Grundlage einer Lüge. Denn kann Laura als Tochter-Ersatz die Familie wirklich heilen? Und wie findet sie aus diesem Märchenwald der Täuschung in ihr eigenes Leben zurück? Sohn Max wirkt skeptisch, wenn er sie beim stillen Gärtnern beobachtet.
Die Geschichten von Christian Petzold könnten in der Regel auch Kurzgeschichten oder Groschenromane sein. Besonders werden sie dadurch, dass er sie mit einer anderen Frage verknüpft: Was ist Kino? Seine Überzeugung: Für Kino braucht es nicht viel. Eine Handvoll Charaktere, gespielt von ihm vertrauten Darstellern. Eine verlassene Gegend, hier die Uckermark, eine Landschaft, die wie gemalt da liegt. Ein Fahrrad gehört unbedingt dazu. Und ein alter Song, der in der Autowerkstatt spielt, und zu dem Laura und Max sich stumm, nur durch Blicke, näher kommen.
Es könnte der Beginn einer Liebesgeschichte sein. Oder die Enthüllung des Geheimnisses einleiten. Aber ein Enthüllungsstück im eigentlichen Sinne ist "Miroirs No. 3" nicht. Eher ein Puzzle, bei dem alle Teile elegant ineinander fallen, ein Vexierspiel mit wechselnden Perspektiven. Kein Wort und auch kein Bild zu viel. Aber jedes Bild ein kleines Geheimnis. Ein erfrischender, situativer Humor begleitet das Melodrama – dessen Auflösung man dann so doch nicht erwartet hätte.
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