Digitalisierung hin oder her: Kugelschreiber fallen einem trotzdem täglich in die Hände. In der Kunstgeschichte hingegen nimmt dieses Schreib-Werkzeug eher eine Randposition ein. Genau dieser Nische widmet sich nun das Neue Museum Nürnberg: "Kulikunst" heißt die neue Ausstellung mit Werken von den 60er-Jahren bis heute.
Ein unterschätztes Kunstwerkzeug
"Erfunden wurde der Kugelschreiber 1953 von einem Ungarn namens Bíró, der wohl Kinder beobachtet hat, die eine Murmel durch eine Pfütze gerollt haben", erzählt Kuratorin Susann Scholl. Sie weiß, was die Menschen in den 50er Jahren am neu erfundenen Kugelschreiber so schätzten: Er schrieb schön flüssig und kleckste nicht so sehr wie die damals üblichen Füller, außerdem konnte er nicht abbrechen wie etwa ein Bleistift und anspitzen musste man ihn auch nicht.
Mitten aus dem Leben
Heute sind Kugelschreiber allgegenwärtig. In der Kunst aber kommt er alles in allem relativ selten zum Einsatz. Größte Herausforderung: Man kann ihn nicht wegradieren. Trotzdem arbeiteten ab den 60ern einige Künstler ganz bewusst mit dem Kugelschreiber, so Scholl: "Weil es ihnen darum ging, die Lücke zwischen Kunst und Gesellschaft zu schließen und die Kunst stärker ans Leben anzubinden."
Werner Knaupp, Vulkan A 16869, 1968-69, Kugelschreiber auf Leinwand. Ausschnitt
Anders als Tusche, Pastellkreiden oder gar Ölfarben kennt Kugelschreiber einfach jeder. Überraschend ist, wie zart Kugelschieber wirken kann: Es muss nicht immer nur die blaue, ein bisschen streng wirkende Linie sein.
Der Nürnberger Werner Knaupp etwa hat eine riesige graublaue Kuppel aus Tausenden feiner Striche auf ein weißes Blatt gesetzt, das Volumen verstärkt sich, weil die Striche im unteren Teil dichter werden. Das ganz wirkt so zart wie eine Seifenblase, heißt aber "Vulkan": Knaupp ging es um die Kombination von konzentrierter Ruhe mit einem unermesslichen Energiepotential in der Mitte. Die Kugelschreiberstriche sind extrem zart, Werner Knaupp hatte seine Kugelschreiber eigens mit Zeichentinte füllen lassen.
Kugelschreiber können auch zart
Zu den Zeitgenossen, die mit Kugelschreiber arbeiten, gehört die in Berlin lebende Künstlerin Nadine Fecht. Ihre riesigen, bis zu viereinhalb Meter großen Papierbögen zeigen kleine bunte Kugelschreiberstriche in den verschiedensten Farben. "Die Vielen als Viele" heißt die Serie. Die Künstlerin bindet dazu 8.500 Kugelschreiber zusammen und führt dieses riesige Bündel übers Papier, kaum kontrollierbar, malt hier auch der Zufall mit, immer wieder rutschen einzelne Stifte heraus. "Sie versteht das gesellschaftlich", erklärt Susann Scholl, "sie sagt, sie möchte ein Bild dafür finden, wie wir uns als Gesellschaft verhalten, oder wie wir in der Gesamtheit der Gesellschaft, in der so viele Menschen zusammenkommen, einen gemeinsamen Weg finden müssen."
Nadine Fecht: MULTITUDE - Die Vielen als Viele #15, 2024, Kugelschreiber auf Papier, Detail
Ein Künstler, der besonders häufig mit dem Kugelschreiber arbeitet, ist Thomas Müller aus Stuttgart. Über seine großformatigen Papiere ziehen sich ganze Ströme aus blauen und schwarzen Strichen, zu hunderten, ja tausenden bewegen sie sich über das Blatt, aber nie vollkommen parallel, so dass sich die breiten Streifen immer wieder verengen, weiten, plötzlich abbiegen, wie die Flugbahn eines sturen Vogelschwarms. Auch an das zarte Gewebe eines Seidenschals erinnern seine Zeichnungen mitunter.
Nähe und Unmittelbarkeit
Dynamik, Zartheit, Kraft und Farbe: Die Ausstellung im Neuen Museum Nürnberg zeigt, was mit Kugelschreibern alles möglich ist und dass es keinen Grund gibt, Kulis als künstlerisches Werkzeug nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Kuli-Kunst erzeugt oft eine Nähe und Unmittelbarkeit, wie sie kaum ein anderes Werkzeug hervorruft. Denn der Strich eines Kugelschreibers ist nun wirklich jedem vertraut.
Die drei Räume voller "Kulikunst" sind bis zum 31. August im Neuen Museum Nürnberg zu sehen. Außerdem ist die Ausstellung der Auftakt zur "Biennale der Zeichnung" in und um Nürnberg, mit Ausstellung rund ums Medium Zeichnung in Nürnberg, Erlangen, Führt, Erlangen Schwabach und Zirndorf.
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