Der russische Präsident vor einem Mikrofon
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Putin beim nächtlichen Presse-Auftritt

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Putin will Verhandlungen: "Kreuzung von Schlange und Igel"

Putin will Verhandlungen: "Kreuzung von Schlange und Igel"

Russische Beobachter sind wenig zuversichtlich, dass der Kreml den Krieg ernsthaft beenden will. Putin wolle nur "Zeit schinden". Erstaunen löste jedoch seine Wortwahl aus: Er sprach von "Krieg", was als Androhung einer Eskalation verstanden wurde.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Alle stimmen einem Waffenstillstand zu, aber es wird nicht dazu kommen, denn Putin braucht eine Pause von der Diplomatie und Selenskyj braucht eine Pause vom Krieg", schreibt der Polit-Blog "Russische Dekadenz" [externer Link]: "Putin versucht mit aller Kraft, Zeit zu schinden und zerrt die Friedensbemühungen in den Sumpf ergebnisloser Treffen."

Das Angebot des russischen Präsidenten, ab 15. Mai in Istanbul "ohne Vorbedingungen" direkt mit der Ukraine über eine Beendigung des Krieges zu verhandeln, sorgte - wenig verwunderlich - für ein höchst kontroverses Echo.

"Wahrnehmung wichtiger als Realität"

"Wir haben großartige Leistungen gezeigt, das reicht jetzt", so der russische Polit-Blogger Anatoli Nesmijan [externer Link]. Aus strategischer Sicht sei der Krieg für Russland ohnehin "sinnlos" geworden, schließlich habe es der Kreml nach drei Jahren immer noch nicht geschafft, eindeutige Ziele zu benennen. "Auch aus der Perspektive der Ressourcenverknappung ist die Lage kritisch: Der Nationale Wohlfahrtsfonds ist erschöpft und um das Ganze zu finanzieren, müssen allzu riskante Schritte unternommen werden. Zudem steht die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs", so Nesmijan. Er ist überzeugt, dass der Krieg gerade deshalb so schwer zu beenden sei, weil Russland und Ukraine sich in ihrer Mentalität so ähnlich seien.

Der in London lehrende Politologe Wladimir Pastuchow meinte [externer Link]: "Für einige wird sich die Einigung wie ein Sieg anfühlen, für andere wie eine Niederlage. Ob es tatsächlich ein Sieg oder eine Niederlage wird, interessiert niemanden – die Wahrnehmung ist wichtiger als die Realität. Die Hauptkampflinie der 'Schlacht um den Frieden' liegt nicht so sehr im wirtschaftlichen und politischen Bereich, sondern im psychologischen."

"Geschichtsvorlesungen in Istanbul"

Tatsächlich gebe es immer weniger offene Streitpunkte zwischen Moskau und Kiew, behauptet Politologe Dmitri Michailitschenko [externer Link]: "Es ist unwahrscheinlich, dass die Parteien nächste Woche eine Einigung erzielen, aber sie nähern sich langsam, aber sicher dieser Einigung."

Derweil erinnerte der Kreml-Propagandist Sergei Markow daran [externer Link], dass Putin seinen Vorschlag, in Istanbul zu verhandeln, am Jahrestag der Erhebung des damaligen Byzanz zur kaiserlich-römischen Residenz Konstantinopel gemacht habe (11. Mai 330). Damit wird auf eine mythische Bedeutung angespielt: Russische Mönche sehen Moskau seit dem Untergang des christlichen Konstantinopel im Jahr 1453 als "drittes Rom", also als Erbe eines universalen Machtanspruchs.

Eher ideologiefrei die Einschätzung von Politologe Andrei Nikulin [externer Link]: "Es wird keinen Waffenstillstand geben und die Ukrainer werden höchstwahrscheinlich nach Istanbul fahren müssen, um sich dort Geschichtsvorlesungen anzuhören." Letztlich verlange Putin von Kiew nichts anderes als eine Kapitulation.

Putin spricht von "Krieg"

Militärblogger zeigten sich so überrascht wie begeistert, dass Putin bei seinem nächtlichen Auftritt erstmals von "Krieg" sprach [externer Link], statt ihn wie bisher als "Spezialoperation" zu verharmlosen. Jury Podoljak, mit 3,1 Millionen Abonnenten einer der tonangebenden Kommentatoren, zeigte sich so angetan, dass er das Wort KRIEG, das im Zusammenhang mit der Ukraine in Russland nach wie vor unter Strafe steht, in Großbuchstaben wiederholte.

Putin habe nach der Waffenstillstands-Diplomatie des Westens "Klartext" gesprochen: "Im Allgemeinen wehrte der Oberkommandierende den Angriff des Gegners wunderbar ab und spielte den Ball auf die gegnerische Seite zurück." Wenn die Gegenseite "mit etwas nicht einverstanden" sei, dann "könne sie zur Hölle fahren und sich selbst die Schuld geben". Eine "Ruhepause" bekomme Kiew definitiv nicht.

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So oder so werde der "wichtigste Faktor bei den Verhandlungen" der Frontverlauf sein, argumentierten die "Zwei Majore" [externer Link], da er die Waffenstillstandslinie bestimmen werde. Andere Militärblogger interpretierten Putins aufsehenerregende Wortwahl so, dass Russland demnächst den "Krieg" mit "voller Kraft" beginnen werde.

"Diametral unterschiedliche Einschätzungen"

Politologe Igor Dimitriew (120.000 Fans) ist mit Blick auf den Kampfdrohnen-Nachschub auf beiden Seiten der Front überzeugt [externer Link], dass China entscheidend sein wird: "China müsste lediglich ein Verbot für den Export solcher Komponenten verhängen, und schon würde sich die Lage an der Front zugunsten Russlands ändern." Die Chance dafür sei angesichts von stundenlangen Gesprächen zwischen Putin und Xi Jinping "sehr hoch".

Weniger zuversichtlich gibt sich der viel zitierte Blogger Dmitri Sewrjukow [externer Link]: "Die Kreuzung einer Schlange mit einem Igel war schon immer eine schwierige Aufgabe und in der gegenwärtigen Lage liegt sie jenseits der Macht von Trump oder dem Papst, sodass die Geschichte ihren vorhersehbaren Verlauf nehmen wird." Moskau und Kiew hätten "diametral unterschiedliche Einschätzungen" darüber, wie die zukünftige Welt aussehen solle. Eine Annäherung sei unwahrscheinlich.

"Der Räuber und der Kutscher"

Dmitri Drise, Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant" schrieb nach Putins Auftritt: "Der Kreml bietet Donald Trump stillschweigend an, seine Position zu unterstützen und Druck auf Selenskyj auszuüben. Im Großen und Ganzen ist ein Prozess im Gange, wobei noch nicht ganz klar ist, wohin er führt."

Ein russischer Leser erinnerte an die Fabel "Der Räuber und der Kutscher" von Iwan Krylow (1769 - 1844). Dort überfällt ein Wegelagerer ein vermeintlich wehrloses Gefährt, in der Hoffnung auf reiche Beute. Doch der Kutscher wehrt sich verzweifelt, verletzt den Räuber schwer und die Ladung erweist sich als wertlos wie "Seifenblasen".

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