"Putins Macht ist illusorisch. Sie ist eine Folge der Schwäche Europas", so der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow. Er wunderte sich nach eigenen Worten über eine aus seiner Sicht reißerische Titelgeschichte des französischen Nachrichtenmagazins "L'Express", das sich kürzlich fragte [externer Link], wie Putin Europa wohl angreifen werde.
Die Antwort von Pastuchow: "Putin wird niemanden angreifen, wenn er weiß, dass er verliert. Putin wird definitiv angreifen, wenn er sicher ist, dass Europa in die Knie geht", so der Experte [externer Link]. Europa müsse folgerichtig aufrüsten: "Aber nicht um Krieg zu führen, sondern um günstige Bedingungen für den Frieden zu schaffen."
"Russlands Gewicht wird neu definiert"
Mit dieser Ansicht steht der Exil-Politologe nicht allein. Der aus dem ukrainischen Odessa stammende und jetzt in Russland lebende Politikwissenschaftler Igor Dimitriew (124.000 Fans) sorgte mit einem inhaltlich ähnlichen Grundsatzartikel für viel Aufregung [externer Link]. Er listete auf, dass Moskau in allen geografischen Richtungen (Zentralasien, Kaukasus, Finnland, Syrien) erheblich an Einfluss verloren habe. 2022, bei Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine, habe noch das Gefühl vorgeherrscht, Russland sei ein Machtzentrum: "Heute ist von diesem Gefühl nichts mehr übrig."
Dimitriews pessimistisches Fazit: "Russland ist nicht länger regional tonangebend, politisches Zentrum oder Garant für Stabilität. Sein geopolitisches Gewicht nimmt nicht nur ab – es wird neu definiert. Tatsächlich konzentriert sich die russische Außenpolitik heute voll und ganz auf taktische Kämpfe in den [teilweise besetzten ukrainischen] Regionen Donezk und Sumy." Putin führe den Krieg mit "manischer Beharrlichkeit" und übersehe dabei, dass die Welt sich weiterdrehe, während er militärisch kaum vorankomme.
"Leider denken viele Menschen so"
"Was bekommt Russland dafür? Komplimente von einem unfähigen amerikanischen Präsidenten und Besuche afrikanischer Staats- und Regierungschefs", spottet Dimitriew: "Zuvor war Russland von einer Pufferzone formal neutraler Staaten umgeben; jetzt ist es von einem System defensiver Allianzen eingekreist, in denen Moskau häufig weder Verbündete noch Vermittler hat. Solche tektonischen Verschiebungen sind unumkehrbar. Allein diese Tatsache deutet darauf hin, dass die geopolitische 'Sonderoperation' genau zum gegenteiligen Ergebnis geführt hat."
BR24
Klar, dass so ein ungewöhnlich deutlicher und kremlkritischer Standpunkt in Russland für erhebliche Irritationen sorgt. Kreml-Propagandist Sergei Markow nannte den Text [externer Link] das "Manifest der Kapitulationspartei". Es sei von Leuten verfasst, die vom Krieg "enttäuscht" seien und sich "offenbar bereits eine andere Heimat gesucht" hätten: "Aber es ist wichtig zu erwähnen, dass, wie Dimitriew schrieb, leider viele Menschen so denken. Aber sie denken es nur und schweigen. Auch im System. Ich hoffe, es gibt solche Leute nicht auf höchster Ebene. Aber ich bin mir nicht sicher."
"Im Westen gibt es Probleme"
Politologe Pawel Prijanikow (119.000 Fans) lässt Dimitriews Analyse nur teilweise gelten [externer Link]: "Ich würde die Lage für Russland im Süden und Osten der ehemaligen UdSSR [also im Kaukasus und in Zentralasien] nicht so tragisch sehen. Aber im Westen – ja, da gibt es Probleme, wobei Belarus der neue potentielle wunde Punkt ist. Alles, was eine Grenze zu Europa hat, geht für Russland höchstwahrscheinlich verloren." Georgien drifte jedoch "rapide" Richtung Russland, so Prijanikows Argumentation, Armenien habe keine Alternative und Zentralasien sei auf russische Logistikrouten und Arbeitsplätze angewiesen.
"Russland ist keine Supermacht mehr"
Weniger propagandistische Blogger sprachen dagegen von "Hoffnungslosigkeit und einer Sackgasse" [externer Link] und wollten sich vor ihren russischen Vorfahren gar schämen: "Wollten wir unser Vaterland so sehen? Ganz sicher nicht."
Russland sei kein Machtzentrum mehr: "Kein Schiedsrichter. Keine Schutzmacht. Der Kreml hoffte, die Erstürmung ukrainischer Dörfer würde ihm einen geopolitischen Vorteil bringen. Was er bekam, war: ein zerstörtes Bündnissystem, die Abhängigkeit von China und eine antirussische Koalition entlang der Grenze. 2025 ist Russland keine Supermacht mehr. Es ist ein Kriegsgebiet mit einem Atomwaffenarsenal, dessen Abwicklung alle fordern", so das Fazit eines russischen Polit-Beobachters mit 119.000 Fans [externer Link].
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