Test einer Anti-Drohnenwaffe
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Buggy statt Panzer: Russische Soldaten

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"Uns fehlt die Kraft": Russland debattiert über Waffenstillstand

"Uns fehlt die Kraft": Russland debattiert über Waffenstillstand

Putins Armee ist nach Ansicht russischer Militärfachleute aus personellen Gründen bis auf Weiteres nicht in der Lage, offensiv voranzukommen. Deshalb wird kontrovers über ein baldiges Ende der Kampfhandlungen gestritten: "Die Versuchung ist groß."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Die Größe unserer Streitkräfte entspricht grundsätzlich nicht ihren offensiven Aufgaben", schimpfte der russische Militärblogger Swatoslaw Golikow kürzlich auf seinem Telegram-Kanal und löste damit bittere Zustimmung und energischen Widerspruch aus: "Die Qualität unseres Personals lässt zu wünschen übrig, sowohl bei den neu angeheuerten Rekruten, als auch im Altbestand, einfach aufgrund der Auszehrung des Körpers."

Dazu kommt eine, offen gesagt, unverantwortliche Haltung eines erheblichen Teils des Führungspersonals, was die Schonung von Menschenleben betrifft." Es fehle schlicht die Kraft, anfängliche Erfolge an der Front in operative Vorteile umzusetzen, wie der Vorstoß auf die ukrainische Großstadt Charkiw gezeigt habe: "Ganz zu schweigen davon, dass wir wieder mal stecken geblieben sind."

Umfrage: "Alte Männer sind gegen Waffenstillstand"

Grundsätzlich übernehme sich Putins Generalstab, so das Urteil von Golikow: "Wenn die Anzahl der Kräfte und zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt ist und keine wesentliche Überlegenheit gegenüber dem Feind besteht, Sie aber trotzdem hartnäckig versuchen, überall anzugreifen, werden Sie immer wieder in eine Knochenmühle geraten, selbst wenn Sie taktische Erfolge erzielen." Ständig müssten Soldaten aus erfolgversprechenden Gebieten als "Feuerwehr" an andere, gefährdete Frontabschnitte verlegt werden, an denen ein ergebnisloser Stellungskrieg tobe.

Solche und ähnliche Kommentare lösten in Russland eine Debatte über die Konsequenzen eines baldigen Waffenstillstands aus, zumal nach dem Besuch von Putin-Fan Viktor Orbán in Kiew. Eine innerrussische Meinungsumfrage ergab, dass angeblich 78 Prozent der Befragten dafür sind, dass Putin "schon morgen" ein Abkommen unterzeichnet. Unter den Gegnern eines Waffenstillstands sind demnach vor allem ältere Männer über 60 und wohlhabende Russen. Sie fühlen sich in ihrer großen Mehrheit durch die Kampfhandlungen nicht persönlich bedroht und bewerteten den bisherigen Kriegsverlauf positiv, so die Soziologen.

"Unerklärliche Gründe"

"Die öffentliche Meinung in Russland und insbesondere in der Ukraine wird aber kein wesentliches Hindernis für einen Verhandlungsprozess darstellen", so Meinungsforscher. Nur etwa zwanzig Prozent der russischen Bevölkerung sei mit dem bisher Erreichten an der Front unzufrieden und befürworte einen Krieg "bis zum bitteren Ende". Sobald wirklich verhandelt werde, sei zu erwarten, dass die Gesellschaften mehrheitlich sehr stark auf eine Verständigung drängten.

Blogger Dmitri Sewrjukow (54.000 Fans) fiel auf, dass im russischen Fernsehen neuerdings weniger wüst auf die Ukraine geschimpft und mehr über eine eventuelle Verständigung getalkt wird. Er schrieb verwundert: "Die russische Neigung, mögliche Vereinbarungen zu diskutieren, wenn auch zu für die Russische Föderation günstigen, aber eben nicht vorbehaltlos siegreichen Bedingungen, deutet indirekt darauf hin, dass sich das große militärische Vorhaben, das im Februar des vorletzten Jahres begann, mittlerweile erheblich verändert hat und unter starkem Druck steht - aus unerklärlichen Gründen."

"Jetzt steht die Front"

Politologe Dmitri Tsibakow argwöhnte, der Kreml wolle die Russen insgeheim auf einen baldigen Waffenstillstand vorbereiten, weil es schlicht einfacher sei, den Krieg "bei nächster Gelegenheit" abzubrechen, als eine derart "komplexe, teure und psychologisch unerträgliche" Auseinandersetzung fortzuführen: "Es besteht kein Zweifel, dass das Land, um einen militärischen Sieg zu erringen, einen grundlegend anderen Organisations- und Verwaltungsapparat braucht als heute." Tsibakow bezweifelte, dass die jetzt installierten Wirtschaftsfachleute an der Spitze des russischen Verteidigungsministeriums ausreichend Verständnis hätten für den "Geist des Krieges". Der Politikwissenschaftler forderte staatliche Verteidigungskomitees wie im Zweiten Weltkrieg, also eine Art Standrecht.

"Möchte keinen Zeitraum vorhersagen"

"Jetzt steht die Front bei Woltschansk [nahe Charkiw] und im Süden bewegt sich unsere Front im Schneckentempo voran, ohne Durchbrüche, Kessel und die Zerstörung größerer feindlicher Einheiten, wie im Ersten Weltkrieg und aus denselben Gründen", so ein weiterer Beobachter: "Ohne eine Neuorganisation der Streitkräfte können wir die Ursachen dafür nicht beseitigen, aber das ist den Behörden nicht klar." Mit dem Verweis auf den Ersten Weltkrieg zielt der Blogger darauf ab, dass die Armeen dank der Kampfdrohnen überragende defensive Möglichkeiten, aber kaum offensive Instrumente haben. 1914 waren es die Maschinengewehre und die Artillerie, die zu einem ähnlichen Ungleichgewicht zwischen Abwehr und Angriff führten. Die Folge waren verlustreiche Materialschlachten. Erst die Erfindung der Panzer erlaubte den Armeen wieder schnelle Vorstöße.

"Angesichts der Arbeitskräfteprobleme auf beiden Seiten glaube ich nicht an einen Krieg, der zehn, fünf oder auch nur zwei Jahre dauert", so ein russischer Beobachter: "Ich möchte keinen Zeitraum vorhersagen, aber das Hauptproblem für beide Seiten ist die Erschöpfung der Beteiligten. Das einzig Schlimme ist, dass russische Politiker höchstwahrscheinlich an ihren bisherigen Maßnahmen zur Personalverstärkung festhalten werden. Doch die Grenzen unserer Kraft sind bereits erreicht."

"Frauen warten darauf, dass Männer heimkommen"

Sogar Kriegsblogger Roman Aljechin (133.000 Fans) meinte zum Thema Waffenstillstand: "Normale Menschen sagen sich, dass es gut wäre – alle sind müde, die Frauen warten darauf, dass ihre Männer nach Hause kommen." Aus rein militärischer Sicht müsse die Ukraine zwar besiegt werden, doch Aljechin ist diesbezüglich wenig optimistisch: "Das wird offenbar nicht geschehen. Wenn es Frieden oder vielmehr einen Waffenstillstand gibt, müssen wir unsere Begeisterung für den Kampf gegen Liberalismus, Korruption, den Bevölkerungsaustausch durch Migranten, aber vor allem für die Schaffung einer neuen Welt innerhalb Russlands trotzdem aufrechterhalten. Damit wir stärker werden und nicht auf den nächsten vernichtenden Schlag warten müssen."

"Feind mit Leichen zuwerfen"

Ultrapatrioten versuchten, den Defätismus mit dem Argument einzufangen, dass die Ukraine eine "terroristische Bedrohung" bleibe, wenn sie nicht vollständig besiegt werde: "Das wird auf Dauer Kosten verursachen für die Instandhaltung kampfbereiter Einheiten, für Luft- und Raketenangriffe, für Spezialeinheiten und Terrorbekämpfer."

Rechtsaußen Alexander Chodakowski (521.000 Follower) gestand, er habe den Krieg anfangs nicht befürwortet und sei für ein "Einfrieren" des Konflikts entlang erreichter Frontverläufe gewesen, hoffte jetzt allerdings auf einen aus russischer Sicht glimpflichen Ausgang: "Die Ermüdung durch den Krieg ist direkt proportional zu seiner Dauer. Deshalb rufe ich zu Durchhaltewillen und Geduld auf. Wird beides belohnt werden? Wahrscheinlich ja. Der Westen hält uns an der Kehle und versucht, uns den Sauerstoff abzudrücken, aber nicht besonders effektiv, aber wir haben die Ukraine im Würgegriff und beschleunigen ihren Zerfall."

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan fasste den Gedankengang solcher Propagandisten so zusammen: "Es werden noch mehr Menschen benötigt. Und noch mehr. Und dann werden wir gewinnen. Aber genau das ist nicht die Lösung. Menschen als Wegwerfware wie Patronen zu betrachten, ist eine typisch russische Strategie – den Feind quasi mit Leichen zu bewerfen. Die Hauptsache scheint zu sein, dass dem Feind die Soldaten früher ausgehen." Das habe mit der russischen Mentalität zu tun.

Putins Hauptproblem sei, dass er eine weitere Mobilisierung vermeiden wolle und daher für vergleichsweise viel Geld Freiwillige rekrutiere, was allerdings jetzt an Grenzen stoße: "Die Reserve derjenigen, die bereit sind, gegen Geld an die Front zu gehen, neigt sich dem Ende zu. Sie versuchen mit großem Aufwand, das Problem zu lösen, indem sie die Zahlungen erhöhen, aber die Grenze wird dennoch erreicht. Die Mehrheit der Bevölkerung des Landes wird für kein Geld der Welt sterben wollen."

"Kaffeesatzleserei über Friedensverhandlungen beginnt"

Polit-Beobachter Dmitri Michailitschenko ist der Ansicht, dass alle gerade dringend eine "Atempause" benötigen, auch China: "Weil es Zeit braucht, seine wirtschaftlichen Verbindungen zu den USA so schmerzlos wie möglich zu kappen." Es sei unwahrscheinlich, dass Putin etwas zu melden habe, wenn Peking und Washington ihre Beziehungsprobleme lösten. Umgekehrt versuche der Westen einen "Bissen" zu schlucken, den er nicht in den Mund bekomme und stelle gerade fest, dass es "enorm teuer" werde, Länder wie die Ukraine, Georgien und Moldawien unter Kontrolle zu bekommen. Ein echter Frieden auf verlässlicher Grundlage bleibe daher "illusionär".

"Die Kaffeesatzleserei über Friedensverhandlungen beginnt", spottet ein weiterer Kommentator: "Ja, tatsächlich gibt es bei all diesen Gleichungen so viele unbekannte Variablen und so viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen, dass jede Prognose ähnlich zuverlässig ist wie das Werfen einer Münze. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass das Pendel der Eskalation in die eine oder andere Richtung ausschlägt oder an Ort und Stelle verharrt. Das wird als globale strategische Instabilität bezeichnet."

Dmitri Drise, viel beschäftigter Kolumnist vom liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant", hatte zwar den Eindruck, dass Viktor Orbáns herbe "Charmeoffensive" in Kiew nicht viel erreichte, schränkte jedoch ein: "Das militärische Szenario bleibt das einzig mögliche. Zumindest bis zum Herbst. Mag sein, dass etwas im Busch ist, von dem wir nichts wissen und es kommt bald zu einer Sensation. Heutzutage ist es allerdings sehr schwer, sich dazu zu zwingen, auch nur mit der geringsten Zuversicht auf die Ereignisse zu blicken."

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