Das "Wall Street Journal" (WSJ) fühlt sich angesichts der aktuellen Lage in Syrien an das Ende des Vietnam-Kriegs erinnert und titelte, Putin müsse einen "Saigon-Moment" befürchten. Am 30. April 1975 hatten Truppen des kommunistischen Nordvietnam die südvietnamesische Hauptstadt Saigon, heute Ho-Chi-Minh-Stadt, eingenommen. Das Bild von einem Hubschrauber, der einen Tag zuvor auf dem Dach eines Apartmenthauses gelandet war, um den stellvertretenden CIA-Chef der Stadt auszufliegen, ging um die Welt und ist als Symbol für eine schmähliche Niederlage der USA bis heute unvergessen.
Putin drohe mit einem möglichen Zusammenbruch des von ihm politisch und militärisch unterstützten Assad-Regimes eine ähnlich blamable Erfahrung, so das WSJ: "Es kratzt an Putins Bemühungen, sich als Wortführer für eine alternative Weltordnung hinzustellen, die die liberalen Demokratien des Westens herausfordert."
Beobachter: "Wir verlieren den Frieden"
Die beiden russischen Militärkorrespondenten Alexander Karschenko und Sergei Schilow von der propagandistischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti versuchten, ihre tief deprimierten Gesinnungsgenossen aufzumuntern: "Es war nicht alles umsonst. Russland hat Erfahrungen in der Führung militärischer Konflikte gesammelt (egal, was man über die 'syrische Erfahrung' denkt), hat neue Ausrüstung getestet und ist in die Rolle eines Schiedsrichters der internationalen Beziehungen zurückgekehrt. Syrien erhielt eine Chance auf einen friedlichen Wiederaufbau, die es jedoch nicht wirklich nutzen konnte."
Ein russischer Blogger (66.000 Fans) warnte: "Wir verlieren vielleicht keine Kriege, aber wir verlieren den Frieden. Dieses Fazit ziehen die meisten Experten jetzt mit Besorgnis – angesichts der bevorstehenden Verhandlungen über die Ukraine und die Nachkriegswelt." Russlands Regime sei ähnlich labil wie das syrische, urteilte ein weiterer Kommentator, es fehle lediglich der Zünder: "Kapieren das die russischen Behörden, wenn sie jetzt dabei zusehen, wie ihr lieber Freund Assad zum Obdachlosen wird? Wahrscheinlich ja. Werden Sie diesbezüglich etwas an Ihrem Verhalten ändern? Kaum."
Der im Exil lebende prominente Politologe und ehemalige Kreml-Insider Abbas Galljamow urteilte, Putin sei im Zweifelsfall lieber Zyniker als Verlierer und habe es deshalb vorgezogen, in Syrien die Notbremse zu ziehen und Assad dessen unwägbarem Schicksal preiszugeben.
Blogger Alexei Tschadajew schrieb: "Die wichtigste Lektion, die wir lernen müssen: Man kann einen Krieg gewinnen und dennoch die Welt – und dadurch alles - verlieren. Ohne Technik und Personal, die in der Lage sind, funktionsunfähige staatliche Institutionen in leistungsfähige umzuwandeln, muss man damit rechnen, dass militärische Erfolge jederzeit rückgängig gemacht werden können."
Politikberater: Assad "Koloss auf tönernen Füssen"
Egal, welche Vorschläge jetzt zur Rettung Assads in letzter Minute kämen, Putin fehlten schlicht die Mittel dafür, so Kolumnist Alexei Schiwow - "um es milde auszudrücken". Politikberater Jarolaw Ignatowski forderte Putin auf, dem schlechten Geld kein gutes hinterher zu werfen: "Eine Investition in den syrischen Präsidenten lohnt sich eindeutig nicht. Er gleicht einem Koloss auf tönernen Füßen, der bereits durchbohrt ist und zusammenbricht." Der Kreml sei besser beraten, die [bisher von den USA subventionierten] Kurden in der Region zu unterstützen, deren Verwaltung "deutlich stabiler" sei.
Kremlkritiker: "Syrien ist Koffer ohne Griff"
Der kremlkritische Blogger Anatoli Nesmijan ist der Ansicht, dass Assads politisches Ende für Putin zwar schmerzhaft sei, letztlich jedoch wenig Folgen haben werde: "Syrien wurde wie ein Koffer ohne Griff mitgeschleppt und für afrikanische Abenteuer genutzt, aber ohne [die Privatarmee des verstorbenen Jewgeni] Prigoschin und seine 'Wagner'-Truppe wurde es zur Belastung. Abgesehen von hämischen Bemerkungen über einen weiteren Scheinsieg besteht für den Kreml im Allgemeinen kaum eine Gefahr, wenn er in Syrien den Halt verliert. Es ist nicht das erste Mal, dass er seine eigene Bösartigkeit übersteht. Nach außen hin werden sie tun, als ob sie es gar nicht bemerken, nach innen halten sie den Mund und sperren den einen oder anderen ein, aber ohne Fanatismus."
Eine Prise Ironie leistete sich Blogger und Orientalist Igor Dimitriew: "Ich möchte Sie daran erinnern, dass Baschar al-Assad bei den Präsidentschaftswahlen 2021 95 % der Stimmen erhalten hat. Es ist klar, wie das Ergebnis zustande kam. Aber warum werden bei Wahlen überhaupt Stimmen manipuliert? Tote Seelen [Titel eines Romans von Nikolai Gogol] beeilen sich nämlich nicht, den Diktator zu verteidigen, wenn Bewaffnete hinter ihm her sind."
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!