Screenshots von politischen TikTok-Videos
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Linke Influencer auf TikTok haben aufgeholt

Linke Influencer auf TikTok haben aufgeholt

Vor der Bundestagswahl wurde TikTok erstmals zur Wahlkampfarena für alle großen Parteien. Eine Auswertung exklusiver User-Daten zeigt: Vor allem die Linke hat massiv aufgeholt. Experten äußern Kritik an der Plattform.

Über dieses Thema berichtet: 11KM - der tagesschau Podcast am .

Wer vor der Bundestagswahl durch seinen TikTok-Feed scrollte, kam an Heidi Reichinnek kaum vorbei: Die Spitzenkandidatin der Linkspartei wurde zum TikTok-Phänomen. Ihre Rede im Bundestag, in der sie Friedrich Merz für eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD angriff, ging viral.

Millionen Menschen sahen das Video und die Linkspartei zog schließlich mit 8,8 Prozent in den Bundestag ein – entgegen der Vorhersage einiger Kritiker, die die Partei bereits aus dem Bundestag ausscheiden sahen.

Datenspenden geben Einblick in TikTok-Nutzung

Um politische Kommunikation auf TikTok besser zu verstehen, riefen der Bayerische Rundfunk und die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten zusammen mit der Universität Zürich und dem Weizenbaum-Institut TikTok-User dazu auf, ihre Nutzungsdaten zu spenden. 681 Personen stellten ihre "For You"-Feeds – die personalisierte Startseite – und Wahlpräferenz zur Verfügung.

Laut dem Kommunikationswissenschaftler Jakob Ohme, der das Forschungsprojekt zur Datenspende-Aktion am Berliner Weizenbaum-Institut leitet, handelt es sich um den bislang größten vergleichbaren Datensatz in Deutschland. Der Datensatz ist nicht repräsentativ, denn etwa 80 Prozent der Spenderinnen und Spender wählten laut eigener Angabe Grüne oder Linke. Sie sind überwiegend weiblich, zwischen 20 und 30 Jahren alt, hochgebildet und kommen meist aus Westdeutschland.

Das heißt auch: Der Rücklauf unter Wählerinnen und Wählern der FDP, CDU/CSU und AfD war so gering, dass die Daten keine verlässlichen Aussagen darüber zulassen, wie die Parteien TikTok für den Wahlkampf nutzten.

Ohme: "Auch am linken Rand erfolgreich"

Dennoch erlaubt der Datensatz einzigartige Einblicke, welche politischen Videos TikTok-Nutzende im Vorfeld der Bundestagswahl anschauten. Journalisten des BR und der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten werteten die Daten aus. Ein Ergebnis: TikTok ist kein exklusives Spielfeld von Rechtspopulisten. So wurden über 400 Partei-Accounts von SPD, Grüne und Linke identifiziert. Dazu kommen fast 100 linke Content Creator, also TikTok-User, die regelmäßig selbst Videos mit zum Teil hohen Reichweiten erstellen.

Bis zur diesjährigen Bundestagswahl war es vor allem die Rechte, die TikTok als politischen Raum erkannt und besetzt hatte. Die AfD habe schon vor drei, vier Jahren mit zahlreichen Partei- und Politiker-Accounts angefangen, sagt der Social-Media-Experte und Politikberater Martin Fuchs. Rechte Inhalte hätten so “viel Buzz erzeugt, auch weil andere pro-demokratische Akteurinnen und Akteure dort nicht präsent waren”. Außerdem habe die AfD laut Fuchs früh verstanden, wie die politische Ansprache plattformgerecht funktioniert: mit starkem Einsatz von Emotionen.

Aber nicht zuletzt der virale Erfolg von Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek zeigt, wie andere Parteien über die Jahre aufgeholt haben. „Wir haben aus dieser Wahl gelernt, dass es auch möglich ist am linken Rand erfolgreich zu sein und nicht nur am rechten“, sagt Kommunikationswissenschaftler Ohme.

“Progressive Inhalte” auf die Plattform bringen

Der Erfolg linker Content Creator auf TikTok ist auch nach Ansicht von Annika Kruse eine neuere Entwicklung: "Wer sich vor einem Jahr neu auf TikTok angemeldet hat, der hat vor allem politische Inhalte von der AfD und ihrem Umfeld gesehen", so die Hamburger Studentin, die als "Fridays for Future"-Aktivistin im vergangenen Jahr das Hashtag #ReclaimTiktok mit ins Leben gerufen hat. Eine Kampagne, die verstärkt "progressive Inhalte" auf die Plattform bringen wollte, sagt Kruse.

Raphael Klein aus München war zwar nicht Teil der Kampagne, hat sich vor der Bundestagwahl aber auf TikTok gezielt für die Linkspartei starkgemacht. Der Content Creator, der unter dem Namen "Honeybalecta" in Erscheinung tritt, spricht in seinen Videos unter anderem von Umverteilung, Armut und Ungerechtigkeiten im Bildungssystem.

Die Berichterstattung über das "Potsdamer Geheimtreffen" mit AfD-Politikern und verschiedenen rechtsextremen Akteuren hat Klein als Anlass genommen "sich klarer zu positionieren", wie er im BR-Interview sagt. Heute hat der Münchner über 50.000 TikTok-Follower, seine Videos haben mehrere hunderttausend Aufrufe.

Die Linke umwirbt Influencer und Content Creator

Die Linkspartei hatte mehrere Content Creator wie Raphael Klein schon vor dem Aus der Ampel-Koalition zu ihrem Bundesparteitag eingeladen. Im Bundestagswahlkampf interviewte Klein die Linken-Spitzenkandidierenden für seinen TikTok-Account. Im BR-Interview sagt Thomas Lohmeier, bei der Linken für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, teilweise habe die Partei für Influencer-Kooperationen auf ihren eigenen Accounts auch Honorare gezahlt. Das entstandene Influencer-Netzwerk wolle man weiter "pflegen und ausbauen", sagt Lohmeier.

Keine abgeschotteten Filterblasen

Die Datenauswertung von BR und Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten zeigt außerdem: Obwohl Nutzender in ihren Feeds schwerpunktmäßig Inhalte ihrer bevorzugten Partei sehen, geraten sie nicht in klar abgegrenzte Filterblasen: Jede Wählergruppe sieht immer wieder auch Inhalte anderer Parteien. Hinweise darauf, dass TikTok gezielt politische Vielfalt im Feed fördert, konnten im Datensatz nicht gefunden werden.

Politikberater Martin Fuchs hat eine andere Erklärung dafür, dass die Plattform Nutzerinnen und Nutzern auch Inhalte zeigt, die der eigenen Haltung entgegenstehen. Denn die Konfrontation mit diesen Inhalten erzeuge Widerspruch und damit Emotionen und Empörung und fördere so Interaktionen und die Verweildauer. Fuchs vertritt deshalb die These, “dass TikTok nicht zum Diskurs beiträgt, sondern eher zu einer Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft”. TikTok hat sich dazu bis Redaktionsschluss nicht geäußert.

Politische Videos sind die Ausnahme

Eine politische Plattform ist TikTok aber nicht, auch das zeigt die Auswertung der Nutzerdaten: Politische Inhalte tauchen in den gespendeten Feeds eher selten auf, in einem durchschnittlichen For-You-Feed sind unter 4 Prozent der angezeigten Videos zu politischen Themen.

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