Darum geht’s:
- Auf X, TikTok und Instagram verbreiten sich Videos, die Migrationsbewegungen nach dem Regimewechsel in Syrien zeigen sollen.
- Einige Videos sind authentisch, aber teils aus dem Kontext gerissen, beispielsweise von Autos im Stau auf der Autobahn nach Damaskus.
- Ein anderes Video zeigt nicht die aktuelle Situation in Syrien, sondern laut Medien aus den Emiraten die tunesisch-libysche Grenze im April 2020.
Wenige Tage ist es her, dass ein von Islamisten angeführtes Rebellenbündnis Syriens Diktator Baschar al-Assad stürzte. Im Netz verbreiten seither Nutzer Videoaufnahmen, die Migrationsbewegungen belegen sollen.
Experten und Institutionen sagen: Es gibt Fluchtbewegungen innerhalb Syriens, es gibt Syrer, die wieder in ihr Heimatland zurückkehren, und es gibt auch Syrer, die aus dem Land ausreisen. Insgesamt sind die Auswirkungen des Regimewechsels auf Fluchtbewegungen derzeit aber schwer einzuschätzen. Denn die Lage in Syrien ist kompliziert, dynamisch und oft auch unübersichtlich.
Video zeigt Stau bei Damaskus, nicht an der türkischen Grenze
Das zeigt das Beispiel eines Videos mit Drohnen-Aufnahmen, das auf TikTok, X und Instagram kursiert: Autos stauen sich in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember auf einer Straße nach Damaskus. Menschen, die nach dem Regimewechsel in die Hauptstadt fahren wollen, bilden ein Lichtermeer. So berichten es mehrere Medien wie Forbes Breaking News und Al Jazeera. Experten des "Netzwerks Fluchtforschung" schreiben dem #Faktenfuchs ebenfalls: Die Bilder zeigen eine Autobahn im Landesinneren in Richtung Damaskus. Wie groß der Anteil derer auf den Videos ist, die von Damaskus wegfahren, ist unklar.
Im Netz rissen einige Nutzer das Video aus dem örtlichen Kontext und behaupteten: Darauf seien syrische Geflüchtete an der türkischen Grenze zu sehen, die in ihr Heimatland zurückkehren wollen. Aber das zeigt das Video nicht.
Experten: Syrer kehren zurück, Genaueres ist unklar
Trotzdem ist richtig: Syrische Geflüchtete kehren derzeit aus der Türkei und auch anderen Ländern nach Syrien zurück. Auch das zeigen Videos auf sozialen Medien. Das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) bestätigt dem #Faktenfuchs, dass Menschen am türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa nach Syrien einreisen. Die ARD berichtete etwa auch über eine große Zahl von Rückkehrern am Grenzübergang Öncüpinar.
Thomas Schmidinger, Nahost-Forscher an der Universität Wien, sagt: "Es gibt sicher eine Rückkehrbewegung aus der Türkei. Wie viele Menschen das aktuell sind und wie viele das noch werden, ist aus meiner Sicht nicht seriös zu quantifizieren." Die Wissenschaftlerin Shaden Sabouni vom Netzwerk Fluchtforschung, selbst Syrerin, schreibt dem #Faktenfuchs: Innerhalb Syriens seien Menschen auf der Flucht. Und auch aus den anderen Nachbarländern Libanon und Jordanien reisen ihr zufolge geflüchtete Syrer wieder nach Hause.
Diese Grenzübergänge beobachtet auch Katharina Willinger, ARD-Korrespondentin und derzeit in Syrien. Sie schreibt dem #Faktenfuchs per Mail: "Es gibt hunderte Menschen pro Tag, die zurückgehen – aber es braucht seine Zeit. Viele leben seit mehr als 10 Jahren in der Türkei, haben Jobs und Kinder, die zur Schule gehen. Daher warten zum Beispiel manche erst noch das Schuljahr ab. Auch beobachten viele, wie sich die Situation in Syrien in den kommenden Wochen entwickelt. Aber die Mehrheit derer, mit denen wir gesprochen haben, plant, in ihr Heimatland zurückzugehen."
Ein jahrealtes Video von Flüchtlingen wird als aktuell verkauft
Andere Beiträge im Netz zeigen alte Videoaufnahmen, die nichts mit der aktuellen Situation in Syrien zu tun haben. Auf X behauptet beispielsweise ein Nutzer: "In Syrien machen sich aktuell neue gigantische Flüchtlingsströme auf den Weg nach #Europa." Der angebliche Beleg dafür: Ein unscharfes Video einer großen Gruppe von mit Gepäck beladenen Menschen, die eine Straße entlanglaufen.
Doch mithilfe einer Bilderrückwärtssuche im Internet findet man das Video bereits in einem Beitrag der emiratischen Nachrichtenseite "The National" vom April 2020. Laut dem zugehörigen Artikel zeigt es Menschen an der libysch-tunesischen Grenze.
Altes Video- und Bildmaterial nach Krisen und Kriegen erneut zu teilen, ist eine bekannte Strategie der Falschinformation. Nicht immer geschieht das Weiterverbreiten mit der Absicht, zu schaden. Einige aber tun das, um Chaos zu säen, Vorurteile zu bestärken oder zu verunsichern.
- Wie mit veraltetem und aus dem Kontext gerissenen Bildmaterial Falschinformationen verbreitet werden, lesen Sie auch hier, hier und hier.
Aus dem Kontext gerissene Fotos und Videos kann man häufig, wie in diesem Fall, mit einer Bilderrückwärtssuche entlarven. Dafür können Sie die Datei oder die URL zum Bild einfach in eine Bildersuchmaschine wie Google, TinEye oder Yandex eingeben. Es kann sich lohnen, die Ergebnisse unterschiedlicher Suchmaschinen zu vergleichen.
Stand jetzt keine Belege für massenhafte Flucht
Eine weitere Nutzerin auf X postete ein Video, das Menschen zeigt, die scheinbar aufgebracht durch den Flughafen in Damaskus rennen. Auch Focus Online und die emiratische Tageszeitung "The National" etwa griffen das Video auf. Focus Online gab "Reuters" als Quelle des Videos an. Reuters teilte dem #Faktenfuchs auf Anfrage mit, dass das Video am 9. Dezember von einem Drittanbieter auf "Reuters Connect" veröffentlicht wurde – einem internationalen digitalen Marktplatz für Medieninhalte. Die Nachrichtenagentur schreibt weiter, dass Inhalte von Drittanbietern nicht von Reuters verifiziert werden.
Der Kontext des Videos ist unklar, viele Fragen lassen sich bislang nicht beantworten: Wer sind die Menschen, weshalb sind sie am Flughafen in Damaskus, wo wollten sie hinfliegen? Der #Faktenfuchs zeigte das Video einer arabischsprachigen Person. Laut ihr beantworten auch die Aussagen der Menschen, die man im Video hört, diese Fragen nicht.
Die X-Nutzerin, die das Video teilte, schrieb dazu: "Ist das echt? Menschen in Syrien sollen in Scharen vor den Islamisten fliehen Deutschland muss jetzt reagieren und ein weiteres 2015 verhindern!"
Moritz Behrendt, ARD-Korrespondent in Kairo, schreibt dazu in einer Mail an den #Faktenfuchs: "Dafür, dass Menschen in Scharen vor den Islamisten aus Damaskus fliehen, haben wir derzeit keine überprüfbaren Belege. Allerdings haben Angehörige der Minderheiten weiter Angst, was eine Herrschaft der Islamisten für sie bedeuten könnte."
Korrekt ist: Der Flughafen in Damaskus ist derzeit vorerst außer Betrieb. Das berichten Medien, auch Thomas Schmidinger sagt: "Der Flughafen ist definitiv geschlossen."
Experten: Fluchtbewegungen derzeit nicht abschätzbar
Das UNHCR schreibt dem #Faktenfuchs, dass momentan Menschen aus dem Libanon nach Syrien flüchten – und dass auch andersherum Menschen aus Syrien in den Libanon flüchten. Außerdem flüchteten Menschen innerhalb Syriens vom Nordwesten in den Nordosten. Das UNHCR betont, die Lage sei dynamisch und komplex.
Benjamin Schraven, Migrationsforscher am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, schreibt dem #Faktenfuchs: "Ich befürchte, dass wir hinsichtlich des (tages-)aktuellen Geschehens in Sachen Flucht und Migration aus/nach Syrien einfach noch länger mit einer gewissen Unsicherheit leben müssen." Thomas Schmidinger, der Nahost-Forscher von der Uni Wien, sagt: "Wir müssen mindestens einen Monat abwarten, um das wirklich beurteilen zu können."
Fazit
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al–Assad verbreiten sich Videos im Netz, die Fluchtbewegungen aus und nach Syrien zeigen sollen. Authentisches Videomaterial gibt es von Autostaus auf einer Straße nach Damaskus und von syrischen Heimkehrern an der türkisch-syrischen Grenze. Manche Nutzer posten ein jahrealtes Video von Geflüchteten aus einem anderen Land. Das Gerücht, dass ein Video vom Flughafen in Damaskus Menschen zeige, die massenhaft vor den Islamisten fliehen wollten, ist nicht belegt.
Die einzelnen Videos zeigen lediglich Ausschnitte der komplizierten und dynamischen Situation. Welche Auswirkungen der Regimewechsel in Syrien genau auf Migrationsströme haben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, sagen Experten.
Quellen
Al Jazeera: Roads to Syria’s capital jammed after fall of Assad
BR24: #Faktenfuchs-Toolbox: Wie Sie Fakten selber prüfen können
Andalou images: Drone footage shows Syrians advancing on Damascus, capital liberated from Baath Party rule
Forbes Breaking News: DRONE VIDEO: Aerial Footage Captures Syrians Returning To Damascus After Collapse Of Assad Regime
Tagesschau: Islamisten versprechen geordneten Machtwechsel
Tagesschau: Lage an der türkisch-syrischen Grenze
The National News: Tunisia opens gates to end chaos as hundreds stuck on closed libya border
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