Drei nach oben geöffnete Kinderhände. In jeder Hand befindet sich eine kleine Portion Samenkörner
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Die schwarzen Punkte sind Felsennelken-Samen. De Kinder säen sie in Pflasterfugen.

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Grundschüler machen es vor: Artenretten geht überall

Grundschüler machen es vor: Artenretten geht überall

Jede vierte Pflanzenart, die in Bayern auf der Roten Liste steht, kann man im Garten ansiedeln. Hobbygärtner als Artenretter? Das könnte zumindest zum Teil funktionieren, sagen Wissenschaftler. Grundschüler aus Neu-Ulm zeigen, wie es klappen kann.

Über dieses Thema berichtet: BR-Heimatspiegel am .

Garteln gegens Artensterben: Der Hausgarten kann eine wichtige Rolle im Artenschutz spielen. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Uni Leipzig. Kann man bedrohten Pflanzen im Garten wirklich eine Zukunft geben? Bedrohte Pflanzenarten außerhalb von Schutzgebieten erhalten, ist zwar mühsam, aber kein Hexenwerk. Das beweisen Zweitklässler der Grundschule im Neu-Ulmer Stadtteil Pfuhl. Sie retten die Sprossende Felsennelke, eine kleine seltene Blume, die auf ihrem Pausenhof wächst.

Artenschutz mal anders: Weit weg vom Naturschutzgebiet

Die bisherigen Bemühungen, das Artensterben einzudämmen, haben keinen durchschlagenden Erfolg gebracht, schreiben die Wissenschaftler um Ingmar Staude von der Universität Leipzig. Deswegen haben sie auf der Suche nach zusätzlichen Strategien und Flächen für den Artenschutz das Potenzial von Hausgarten und Balkon näher untersucht. Wie könnte der Hausgarten das Artensterben bremsen? Als Refugien für gefährdete Pflanzen-Arten zum Beispiel. "Und andererseits könnten Gärten auch als Biotop-Trittsteine und Korridore hin die rückläufigen Arten dabei helfen, sich auszubreiten und somit ihre Nische in einer sich wandelnden Landschaft zu finden", so Ingmar Staude. Diesen Ansatz nennen die Experten "Conservation Gardening".

Jede vierte Pflanzenart von der Roten Liste kann auch im Garten wachsen

Von den 1.123 Pflanzenarten, die in Bayern auf der Roten Liste stehen, könnte man 321 Arten im Garten kultivieren, das sind 29 Prozent. Im Bundesdurchschnitt liegt der Anteil noch höher, bei 41 Prozent. Das hat die Studie von Ingmar Staude ergeben. Er ist Botaniker an der Uni Leipzig. Zu den Rote-Listen-Arten, die man demnach in Bayern auch im Garten etablieren kann, zählen zum Beispiel die Schopfige Traubenhyazinthe, der Gelbe Lein, der Wildapfel und die Steinbrech-Felsennelke. Ingmar Staude und sein Team haben eine App entwickelt, die die bedrohten Pflanzenarten für jedes Bundesland einzeln auflistet, mit ihren Eigenschaften und Standortansprüchen. Und der Information, ob man sie auch auf dem Balkon, also in Kübeln halten kann.

Seltene Arten brauchen oft magere Böden

Die meisten dieser bedrohten Pflanzenarten brauchen nährstoffarme Böden. Auf nährstoffreichen werden sie von konkurrenzstarken Pflanzen wie zum Beispiel Brennnesseln, Giersch und Löwenzahn verdrängt. Deshalb sollte man auf den entsprechenden Flächen die oberste Bodenschicht abtragen, bevor man die seltenen Pflanzen im Garten aussät oder einpflanzt. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass man dann auch einheimisches Wildpflanzensaatgut verwendet oder Pflanzen aus regionaler Herkunft. Und dann "könnten Gärten Räume für Erfahrung sein, dass man gegen die Biodiversität Krise tatsächlich etwas tun kann", so Wissenschaftler Staude. Damit ist der Garten seiner Ansicht nach ein Ort, an dem Mensch und Biodiversität kein Gegensatz sind.

Zufallsfund: Bedrohte Pflanze auf dem Pausenhof

Dass sogar ein Pausenhof ein Hotspot des Artenschutzes sein kann – das hat auch den Landschaftsökologen Andreas Schuler überrascht. Vor ein paar Jahren hat er bei einem Wildbienenprojekt zufällig zwischen Pflasterritzen auf dem Pausenhof der Grundschule in Neu-Ulm/Pfuhl die Sprossende Felsennelke, eine nahe Verwandte der Steinbrech-Felsennelke, entdeckt. "Das war reiner Zufall."

Die Sprossende Felsennelke, eine unscheinbare Pflanze mit rosa Blüten, ist in den 1980er Jahren zum letzten Mal im Landkreis Neu-Ulm nachgewiesen worden. Ihr ursprünglicher Lebensraum sind Kiesflächen entlang von naturnahen Flüssen. Die gibt’s heutzutage kaum noch, deswegen findet man die Pflanze inzwischen eher auf Brachflächen, Kiesgruben oder in Pflasterfugen. Und eben auf dem Pausenhof. Doch da ist sie auch bedroht: Wenn die Erde in den Fugen zu viel Nährstoffe abbekommt, wird die zierliche Felsennelke von großen Pflanzen wie dem Löwenzahn verdrängt.

Bedrohung: Fugenkratzer

Die zweite große Gefahr für Pflanzen wie die Sprossende Felsennelke: Der Fugenkratzer. "Dass es uns hier nicht auch passiert, dass jemand mal im Pflege-Eifer einfach alle wegmacht und die Fugen säubert, haben wir jetzt in Pfuhl rumgeschaut: Wo gibt es Flächen, die ähnlich aussehen?" Andreas Schuler hat nach Flächen gesucht, auf denen die Schüler die Felsennelke aussäen können, damit sich der Bestand in Pfuhl hält und vielleicht sogar ausbreitet. Davor, seit dem Frühjahr, haben sich die Kinder bereits intensiv mit der Felsennelke beschäftigt. Sie haben zum Beispiel alle Exemplare auf dem Schulhof gezählt. Bei jeder Sprossenden Felsennelke, die sie gefunden haben, haben sie einen Kreidestrich aufs Pflaster gemalt und einen auf ihren Zettel. Am Schluss haben sie alle Strichlisten ihrer Zettel zusammengezählt. Das Ergebnis: 803! Und das, obwohl Erstklässler eigentlich nur bis 20 zählen können. Artenretten bringt also auch was für Mathe.

Bildrechte: Andreas Schuler
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Blüte einer Sprossenden Felsennelke

Die Pfuhler Felsennelke ist jetzt in Berlin

Die Kinder haben Schilder gemalt, um die anderen Klassen auf die Felsennelke aufmerksam zu machen. Sie haben einen wissenschaftlichen Herbarbeleg angelegt, eine exemplarische Pflanze gepresst, getrocknet und korrekt beschriftet, und den Beleg nach Berlin geschickt, ins größte Herbarium Deutschlands. "Wir sind das richtig wissenschaftlich angegangen. Und es war so, dass die Kinder da wirklich voll dabei waren", freut sich Andreas Schuler über das Engagement der Klasse und ihrer Lehrerinnen. Nach dem die Felsennelken verblüht waren, haben die Kinder die Samenstände abgesammelt und im Klassenzimmer die Samen rausgefieselt.

Ungewöhnlich: Aussaat auf dem Parkplatz und an der Unterführung

Statt Sportunterricht: Garteln gegen das Artensterben. Die Kinder der Klasse 2b der Grundschule Neu-Ulm/Pfuhl säen an einem Vormittag im Herbst an vielen verschiedenen Stellen in ihrem Stadtteil die winzigen schwarzen Samen der Sprossenden Felsennelke: vor der Schule, auf halber Höhe in der Fußgängerunterführung, an der Bushaltestelle und zum Beispiel auf dem Supermarkt-Parkplatz. Immer in Pflasterfugen. "Dass es so eine seltene Pflanze ist und keine normale Blume. Und die bei uns im Pausenhof wächst. Das ist sehr cool," sagt ein Schüler. Seine Klassenkameradinnen und -kameraden sind alle mit Eifer bei der Sache. Und spätestens im Frühjahr werden sie genau schauen, wo die Sprossende Felsennelke aus dem Pflaster sprießt.

Auch das wissenschaftliche Projekt geht nach der Aussaat noch weiter, sagt Landschaftsökologe Andreas Schuler. "Wir wollen auch die nächsten Jahre beobachten, wie sich’s entwickelt." Um herauszufinden, welche Standorte in Pfuhl der Sprossenden Felsennelke besonders zusagen.

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