Fast 14 Jahre blieb der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) unentdeckt. Als er sich im November 2011 selbst enttarnte, erschütterte das die Republik. Denn es offenbarte sich ein beispielloses Versagen der Sicherheitsbehörden, die rechten Terror nicht als solchen erkannt und stattdessen die Opfer kriminalisiert hatten, indem sie sie etwa mit Drogenhandel und der Mafia in Verbindung brachten.
Viele Fragen zum NSU sind noch offen
Trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse und Sonderermittler, trotz eines fünf Jahre dauernden Gerichtsverfahren sind viele Fragen zum NSU bis heute ungeklärt, sagt Semiya Şimşek-Demirtas, Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU: "Warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurden die Opfer ausgesucht? Ich bin mir sicher, an den verschiedenen Tatorten hatte der NSU Helfershelfer. Warum wird gegen sie nicht ermittelt?" Auch für Michalina Boulgarides, Tochter von Theodoros Boulgarides, den der NSU 2005 in München ermordete, ist noch vieles ungeklärt: "Die Rolle des Verfassungsschutzes, die Aktenvernichtung, der Verschluss von Akten und die mangelnde Aufklärung."
Seit dem Jahr 2000 über 200 Todesopfer rechter Gewalt
Die dubios erscheinende Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex sei kaum aufgeklärt worden, ebenso wenig das Unterstützer-Netzwerk, sagt auch Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt. Das sei mit ein Grund dafür, dass rechter Terror nie wirklich aufgehört habe. Seit dem Mord an Enver Şimşek hätten Rechtsextremisten und Rassisten mehr als 200 Menschen ermordet. "Es gab die Anschläge in Hanau und Halle, das Attentat auf Walter Lübcke, das OEZ-Attentat. Und in fast allen Fällen hätten die Ermittlungsbehörden diese Attentate verhindern können."
Gesetzesänderungen werden zu wenig umgesetzt
Zwar gab es nach dem Auffliegen des NSU einige Gesetzesänderungen. So müssen Polizei und Staatsanwaltschaft seit 2015 bei Straftaten mögliche rechtsextreme oder rassistische Motive ausermitteln und Gerichte müssen solche Motive in ihren Urteilen strafverschärfend berücksichtigen. Doch all das werde in der Praxis viel zu selten umgesetzt, so Kleffner.
Eine Ermittlungsbehörde nimmt Heike Kleffner dabei ausdrücklich aus: die Bundesanwaltschaft. Sie bekam im Zuge der NSU-Affäre neue Zuständigkeiten und darf nun auch bei schweren Gewalttaten von bundesweiter Bedeutung ermitteln. So konnte die höchste deutsche Anklagebehörde zuletzt mehrere rechte Terrorgruppen ausheben, etwa die Reichsbürger um Prinz Reuß oder die Neonazi-Gruppe "Letzte Verteidigungswelle".
"Es passiert schon wieder"
Auf unteren Ebenen aber würden Polizei und Justiz extrem rechte und rassistische Motive weiterhin oft ignorieren, beklagt Seda Başay-Yıldız, Anwältin der Familie Şimşek. Wie schon damals bei den Morden des NSU. "Ich schließe deshalb nicht aus, dass Ähnliches wieder passiert. Und es passiert ja auch schon wieder."
Der NSU entstand in den 1990er Jahren, als Rassisten zahlreiche Anschläge auf Migranten und Geflüchtete verübten und die Regierungskoalition aus Union und FDP, unterstützt von der SPD, darauf mit einer Verschärfung des Asylrechts reagierte. Ähnlich wie heute. Nur dass es heutzutage eigentlich noch schlimmer sei, konstatiert Başay-Yıldız. "Wir haben einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, der von der Politik nicht ernst genommen wird." Auch die Bilanz von Abdulkerim Şimşek fällt bitter aus – 25 Jahre nach dem Mord an seinem Vater Enver Şimşek: "Die Zeiten sind nicht besser, sondern schlechter geworden."
Ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg
Immerhin scheint es in Sachen Erinnerung vorwärtszugehen: Die Bundesregierung will ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg einrichten – in der Stadt, in der der NSU drei Menschen ermordete und einen Bombenanschlag verübte. "Im Regierungsentwurf für den Haushalt 2026 sind über acht Millionen Euro für die Errichtung des NSU-Dokumentationszentrums enthalten", sagt Cemile Giousouf. Die CDU-Politikerin steht aktuell der Bundeszentrale für politische Bildung vor. Die Bundeszentrale hat jüngst eine Wanderausstellung zum NSU erarbeitet und eine Machbarkeitsstudie zum geplanten Doku-Zentrum vorgelegt. "Die Beschäftigung mit dem Leid, das den Hinterbliebenen und Überlebenden angetan wurde und das der Staat nicht verhindern konnte, ist der empathische Ausgangspunkt unserer Angebote."
Nürnberg sei der richtige Ort für ein NSU-Dokuzentrum, meint auch Abdulkerim Şimşek: "Es gab fünf NSU-Morde allein in Bayern. Es sollte deshalb ein Doku-Zentrum in Bayern geben. Am liebsten hätte ich es in Nürnberg."
Im Video: NSU-Mordserie begann vor 25 Jahren
Heute vor genau 25 Jahren wurde der Blumengroßhändler Enver Simsek von den NSU-Terroristen ermordet.
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