Symbolbild: Kinder unter 14 Jahren begehen immer mehr Gewalttaten, das zeigt die aktuelle Kriminalstatistik. Nun fordert u. a. Bayerns Justizminister, die Strafmündigkeit zu überprüfen. Doch ob eine niedrigere Altersgrenze helfen würde, ist umstritten.
Bildrechte: picture alliance/dpa | Nicolas Armer
Videobeitrag

Kinder unter 14 Jahren begehen laut Kriminalstatistik immer mehr Gewalttaten. Bayerns Justizminister fordert, die Strafmündigkeit zu überprüfen.

Videobeitrag
>

Gewalttaten: Ab wann sollen kriminelle Kinder bestraft werden?

Gewalttaten: Ab wann sollen kriminelle Kinder bestraft werden?

Kinder unter 14 Jahren begehen immer mehr Gewalttaten, das zeigt die aktuelle Kriminalstatistik. Nun fordert unter anderem Bayerns Justizminister, die Strafmündigkeit zu überprüfen. Doch ob eine niedrigere Altersgrenze helfen würde, ist umstritten.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Domenic war 13 Jahre alt, als er seine erste Straftat beging – und es sollte nicht die einzige bleiben. Seine Delikte: Drogenhandel und Körperverletzung. "Das war mir wurscht in dem Moment", sagt Domenic rückblickend. Heute ist er 25 Jahre alt, erinnert sich aber noch gut an das Adrenalin und den "Kick" bei seiner ersten Tat.

Auch Luis wurde schon früh kriminell: "Ich habe fast jeden Tag geklaut. Ich konnte nicht in ein Geschäft gehen, ohne was mitgehen zu lassen", sagt der 19-Jährige dem BR-Politikmagazin Kontrovers. Zu seinem Schutz wurde der Name geändert. Er habe in dieser Zeit Drogen genommen, erzählt Luis, den Konsum habe er nicht mehr finanzieren können und deshalb angefangen zu stehlen: "Das wurde dann auch zu einer Sucht."

Unterstützung haben Domenic und Luis beim Straffälligenhilfe-Netzwerk Ansbach bekommen. Melissa Grocholla ist dort als Sozialarbeiterin tätig und betreut kriminelle Kinder und Jugendliche. Ihrer Beobachtung nach werden die Täter mehr – und jünger.

Seit 2018: Zahl der tatverdächtigen Kinder um 48 Prozent gestiegen

Das deckt sich mit der polizeilichen Kriminalstatistik: Bundesweit ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder seit 2018 um rund 48 Prozent gestiegen. Vor allem die schweren Fälle wie in Wunsiedel oder Freudenberg, wo Kinder töten, erschüttern. Besonders alarmierend: 2023 haben unter 14-Jährige in Deutschland 24 sogenannte "Straftaten gegen das Leben" begangen, also Mord und Totschlag. So viel wie noch nie in den vergangenen 30 Jahren.

Das Problem: Gerichte können nur Strafmündige, also über 14-Jährige, anweisen, in Sozialprogramme wie das in Ansbach zu gehen. Für unter 14-Jährige gibt es keine rechtliche Handhabe. Kinder können zwar im Extremfall aus der Familie genommen werden, eine juristische Aufarbeitung findet aber nicht statt. Die Frage drängt sich auf: Braucht es ein neues Strafrecht für Kinder?

In den Niederlanden sind Kinder ab 12 Jahren strafmündig - in England ab zehn Jahren

Sozialarbeiterin Melissa Grocholla ist dafür: "Ich erhoffe mir eigentlich, dass früher eingegriffen werden kann." Wenn ein Kind beispielsweise mit 12 Jahren anfange zu stehlen und erst einige Jahre und viele Straftaten später Konsequenzen spüre, sei das "einfach zu spät".

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) und andere Politiker wollen deshalb neu über die Strafmündigkeit ab 12 Jahren nachdenken. Andere europäische Staaten setzen schon länger verstärkt auf Abschreckung. In Irland oder den Niederlanden sind Kinder beispielsweise schon ab 12 Jahren strafmündig. In England sogar schon ab 10 Jahren.

Im Video: Interview mit Rainer Wendt, Deutsche Polizeigewerkschaft

Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt erklärt, warum er eine Absenkung der Strafmündigkeit befürwortet - und weshalb ihm die Befugnisse der Familiengerichte nicht ausreichen.
Bildrechte: Bayerischer Rundfunk / Kontrovers 2024
Videobeitrag

Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt erklärt, warum er eine Absenkung der Strafmündigkeit befürwortet.

Polizeigewerkschaft für Herabsetzung – aber Kinder sollen nicht in den Knast

Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, fordert seit Jahren, die Strafmündigkeit auch in Deutschland herabzusetzen: "Man muss alle Möglichkeiten nutzen, um auf Kinder einzuwirken und eine Verhaltensänderung langfristig zu erreichen", sagt Wendt im Interview mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers. Das bedeute nicht, dass Kinder in den Knast sollen: "Natürlich will das niemand – da muss weiterhin der Erziehungsgedanke im Vordergrund stehen." Es gehe aber darum, dass Kinder mit einem Strafverfahren konfrontiert werden. "Wenn die Justiz keine Handhabe hat, sich mit diesen Kindern überhaupt auseinanderzusetzen, weil die Strafmündigkeit erst ab dem 14. Lebensjahr beginnt, verschenken wir mitunter wichtige zwei Jahre", so Wendt.

Staatsanwaltschaften könnten auf kriminelle Kinder einwirken, Jugendgerichte könnten Auflagen und Weisungen erteilen: "Das bekommen die 12- bis 14-Jährigen alle nicht." Im Einzelfall könnten Kinder in diesem Alter gerade bei schweren Straftaten durchaus verstehen, was sie angerichtet haben, so Wendt: "Dass die Einsichtsfähigkeit von Kindern geprüft wird, gehört selbstverständlich dazu." Die eine richtige Lösung gebe es aber nicht. Neben einer früheren Strafmündigkeit braucht es laut Wendt auch eine bessere Ausstattung der Sozialarbeit. "Dann kann das auch gelingen, die Situation langsam zu verbessern", so Wendt im Kontrovers-Interview, "schnell geht das sowieso alles nicht".

Psychiater: Frühere Strafen bewirken nicht, dass Kinder ihre Taten einsehen

Professor Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU Klinikums München. Er ist gegen die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Sinn einer Strafe sei es, eine Verhaltensänderung zu bewirken. Dafür müssten Kinder allerdings längerfristige Folgen abschätzen können, sie bräuchten eine Entwicklungsperspektive. "Je jünger die Kinder sind, desto schlechter können sie die einnehmen", sagt Schulte-Körne. Laut dem Kinder- und Jugendpsychiater bewirken frühere Strafen also nicht, dass Kinder ihre Taten auch einsehen.

Wie kontrovers das Thema Strafmündigkeit ist, zeigt ein Blick nach Bayern. Hier ist die Zahl tatverdächtiger Kinder bei Gewaltkriminalität seit 2019 um über 52 Prozent gestiegen. Der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger lag laut Kriminalstatistik 2023 bei rund 37 Prozent und damit etwas höher als vor vier Jahren (rund 34 Prozent).

Ex-CSU-Justizminister schlägt "Verantwortungsverfahren" vor

Laut Winfried Bausback, Eisenreichs Vorgänger als bayerischer Justizminister, ist eine Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre generell nicht die Lösung. Dringenden Handlungsbedarf sieht der Vorsitzender vom Arbeitskreis der Juristen in der CSU aber trotzdem: Dass es keine gerichtliche Aufarbeitung gebe, sei "für viele Opfer schon ein Thema und ein Problem". Denn wenn ein strafunmündiges Kind eine schwere Straftat begehe, stelle die Staatsanwaltschaft entsprechend den Regeln das Verfahren ein.

Bei besonders schweren Straftaten schlägt Bausback sogenannte "Verantwortungsverfahren" für unter 14-Jährige vor. Diese würden "nach einheitlichen Maßstäben erfolgen", so der Landtagsabgeordnete. "In der Regel sollten auch die Eltern obligatorisch zu den Verfahren hinzugezogen werden."

Sozialarbeiterin will gemeinsam mit Jugendlichen etwas verändern

Können Eltern Teil der Lösung sein? Nicht selten ist das Zuhause erst die Ursache für auffälliges Verhalten. So auch bei Domenic aus Ansbach: "Auf meine Eltern hatte ich keinen Verlass. Die haben mir nicht geholfen, eher schlimmer gemacht." Der 25-Jährige erzählt seine Geschichte offen, will andere junge Menschen warnen. Und er ist sich sicher: Hätten ihm bei seiner ersten Straftat mit 13 schon Konsequenzen gedroht, wäre sein Leben anders verlaufen. "Abschreckung funktioniert", sagt Domenic.

Sozialarbeiterin Melissa Grocholla ist auch deshalb für die Strafmündigkeit ab 12 Jahren, um früher über Eltern hinweg entscheiden zu können und straffällige junge Menschen im Alltag zu unterstützen. "Der Haftantritt ist immer die letzte Maßnahme", sagt Grocholla. Sie glaube aber an "auferlegte Hilfen" und daran, "dass man mit dem Jugendlichen gemeinsam etwas verändern kann".

Domenic hat den Weg aus der Kriminalität geschafft – auch dank des Straffälligenhilfe-Netzwerks Ansbach: "Ich bin von den Drogen weg, bin bei der Feuerwehr, beim Roten Kreuz." Er habe Arbeit, eine eigene Wohnung und sein Leben "besser im Griff".

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!