Es sind Geschichten, die selbst erfahrene Ermittler nicht loslassen: Zwei jesidische Mädchen, fünf und zwölf Jahre alt, wurden nach Angaben der Bundesanwaltschaft im Herrschaftsgebiet des sogenannten Islamischen Staates (IS) versklavt, misshandelt, vergewaltigt. Heute beginnt am Oberlandesgericht München der Prozess gegen ein Ehepaar, das sich an ihnen vergangen haben soll. Die Anklage lautet unter anderem auf Völkermord.
Jesiden-Vertreter: Ein wichtiger Schritt zur Gerechtigkeit
Für die jesidische Gemeinschaft hat dieser Prozess enorme Bedeutung. "Jeder einzelne Strafprozess gegen mutmaßliche Täterinnen und Täter der Terrororganisation stellt einen wichtigen Schritt zur Gerechtigkeit dar", sagt Gohdar Alkaidy, Co-Vorsitzender der Stelle für Jesidische Angelegenheiten. Der Verein, der sich für die Erhaltung der jesidischen Kultur einsetzt, war maßgeblich daran beteiligt, dass der Bundestag den Genozid an den Jesiden offiziell anerkannt hat.
Die Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Minderheit mit alten Wurzeln im Nordirak. Ihre Glaubenslehre vereint Elemente aus Zoroastrismus, Christentum und Islam. Vom IS wurden sie als "Götzenanbeter" diffamiert – gezielte Gewalt, Versklavung und Massentötungen waren die Folge. Auch Kinder wurden Opfer.
Vorwürfe gegen IS-Unterstützer
Im konkreten Fall sollen Hama S. und Asia R. im Irak und Syrien die beiden jesidischen Mädchen gekauft und versklavt haben. Die Taten seien zwischen 2015 und 2017 begangen worden, so die Bundesanwaltschaft. Am 9. April 2024 wurde der Angeklagte Hama S. im mittelfränkischen Roth festgenommen, Asia R. in Regensburg.
Der Bundesanwaltschaft zufolge wurden die Zwölf- und Fünfjährige vom Ehemann sexuell missbraucht sowie zur Hausarbeit gezwungen. Die Ehefrau habe dafür eines der Mädchen geschminkt. Unter anderem soll die Angeklagte den Missbrauch damit gerechtfertigt haben, dass selbst der Prophet Mohamed ein junges Mädchen geheiratet habe.
Im Jahr 2018 reiste das Paar nach Deutschland aus. Vorher übergaben sie die Mädchen offenbar an andere IS-Mitglieder. Das jüngere der beiden Kinder bleibt bis heute verschwunden – während das damals zwölfjährige Mädchen mittlerweile identifiziert ist und nach BR-Recherchen im Münchner Prozess als Zeugin aussagen soll.
Im Jahr 2018 gelang es schließlich auch der Familie des Mädchens, das Kind gegen Zahlung von rund 12.000 US-Dollar zu befreien. Auch UN-Ermittler, die IS-Verbrechen dokumentieren, haben sie bereits vernommen.
IS-Rückkehrerin als Zeugin
Eine zentrale Rolle im Prozess könnte nach BR-Informationen die Aussage der IS-Rückkehrerin Sandra M. spielen. Gegen sie war ebenfalls ermittelt worden – unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Am 11. April 2024 stellte die bei der Generalstaatsanwaltschaft München angesiedelte Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus das Verfahren gegen Sandra M. ein.
Die Münchnerin will das Ehepaar während ihrer Zeit im Kriegsgebiet mehrfach besucht haben: Der Regensburger Anwalt Shervin Ameri, der Asia R. verteidigt, betont auf BR-Anfrage, die Aussagen von Sandra M. müssten im Verfahren besonders sorgfältig geprüft werden. Diese habe "Angaben über seine Mandantin getätigt, die möglicherweise vor dem Hintergrund erfolgten, sich in ihrem eigenen Verfahren einen Vorteil zu verschaffen".
Sandra M. belastet insbesondere Asia R. schwer: Die heute angeklagte Frau habe sich das fünfjährige jesidische Mädchen als "Brautgabe" gewünscht.
Warum beim IS Jesiden missbraucht wurden
Doch warum wurden jesidische Kinder beim IS missbraucht? Unabhängig vom Verfahren in München verweisen deutsche Ermittlungsbehörden laut BR-Recherchen auf ein mögliches pädokriminelles Netzwerk innerhalb des IS. Auf Online-Plattformen, auf denen Kinder angeboten wurden, fanden sich offenbar hunderte Mitglieder. Mädchen wurden demnach mit Kleidern und Make-up hergerichtet, fotografiert und mit Preisangaben im Internet präsentiert.
Neben militärischer Gewalt sei gegen jesidische Gemeinschaften auch sexuelle Gewalt ganz gezielt zum Einsatz gekommen, "um die Jesiden und die jesidische Religion zu vernichten", sagt der Islamwissenschaftler Caspar Schliephack.
Der Münchner Prozess könnte damit auch zu einem Meilenstein in der historischen und juristischen Aufarbeitung des IS-Terrors werden. Die Anklage wegen Völkermords ist besonders bedeutsam, da sie unter das Weltrechtsprinzip fällt. Dies ermöglicht es deutschen Gerichten, schwerste Verbrechen wie Völkermord zu verfolgen, auch wenn sie im Ausland begangen wurden.
Wie kam der Angeklagte zum IS
Hama S. war Anfang der 2000er-Jahre als junger Asylbewerber nach Deutschland gekommen, lebte zunächst ein unauffälliges Leben in München – mit westlichem Lebensstil, Oktoberfest, Kokain und einem Job als Friseur. Doch laut einem Urteil, das dem Bayerischen Rundfunk vorliegt, markierte gut zehn Jahre nach seiner Ankunft der Kontakt zur Darul-Quran-Moschee in München einen Wendepunkt: "So schaffte er seinen Fernseher ab, ging nicht mehr aus, konsumierte keinen Alkohol, keine Zigaretten und keine sonstigen Rauschmittel und hörte keine moderne Musik mehr", heißt es darin.
Die Moschee galt als islamistisch und wurde vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet. Ihr Imam distanzierte sich zwar öffentlich vom Terrorismus – auch vom IS –, doch offenbar fand Hama S. in dieser Umgebung ein neues soziales Umfeld. 2015 reiste er schließlich in den Irak und schloss sich dem IS an. Der Ehemann der Zeugin Sandra M. hatte die Reise ins IS-Gebiet organisiert. Dort heiratete der Angeklagte die damals 19-jährige Asia R., bekam mit ihr zwei Kinder und absolvierte eine Kampfausbildung.
Verteidiger der Angeklagten spricht
Nach dem militärischen Rückzug des IS ging das Ehepaar 2018 nach Deutschland. Hama S. wurde wegen IS-Mitgliedschaft verurteilt, verbrachte mehrere Jahre in Haft. Die neuen, schwerwiegenden Vorwürfe kamen erst später ans Licht.
Asia R.s Verteidiger, Shervin Ameri, betont, seine Mandantin sei selbst unterdrückt worden und habe sich ihrem Mann nicht widersetzen können. In Deutschland habe sie sich von Hama S. getrennt und das alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder angestrebt. Sie sei vollkommen unideologisch.
Welche Vorwürfe sich bewahrheiten, das wird der Prozess zeigen. Das Verfahren könnte Monate dauern – und dürfte auch im Ausland auf großes Interesse stoßen.
Video: Ehepaar vor Gericht: Jesiden-Kinder beim IS missbraucht?
Wie erging es zwei jesidischen Mädchen unter der Gewalt des IS - und welche Rolle spielte ein Paar aus Bayern und dem Irak?
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!