Risikoschwangere in Krankenhäusern der niedrigsten Versorgungsstufe - das kann für Mutter und Kind gefährlich sein.
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Level IV-Geburtskliniken entbinden teils Risikoschwangere, obwohl das gegen Richt- und Leitlinien verstößt.

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Level IV-Geburtskliniken: Mit Risikoschwangeren überfordert?

Level IV-Geburtskliniken: Mit Risikoschwangeren überfordert?

Level IV-Geburtskliniken sind Krankenhäuser der niedrigsten Versorgungsstufe: Es gibt keine Kinderstation. Auch deshalb sollen dort keine Risikoschwangeren entbinden. Trotzdem passiert genau das – wie Recherchen belegen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Lucas hat einen Schutzengel gehabt", sagt Jakov und hat Tränen in den Augen, als er von der Geburt seines Sohnes erzählt. Im August 2022 wird seine Frau Tamara mit Verdacht auf Schwangerschaftsvergiftung ins RoMed Klinikum Wasserburg am Inn überwiesen – ein Level IV-Krankenhaus der niedrigsten Versorgungsstufe. Ihren Nachnamen wollen Lucas' Eltern zum Schutz ihres Kindes nicht im Internet lesen.

Geburtseinleitung in Wasserburger Klinik

Tamaras Beine sind angeschwollen, ihr Blutdruck steigt auf Spitzenwerte von 176 zu 111, wie aus Krankenhausunterlagen hervorgeht. Ihr Sohn Lucas ist zu klein und zu leicht, er wird im Bauch nicht mehr gut versorgt, stellen Ärzte fest. Auch diese Dokumentation liegt dem BR vor. Mit solchen Befunden gelten Frauen wie Tamara laut Experten als Risikoschwangere. Sie wird aber nicht in ein Krankenhaus einer höheren Versorgungsstufe mit Kinderärzten verlegt. Stattdessen wird die Geburt offenbar über drei Tage hinweg in Wasserburg eingeleitet.

Neugeborenes muss nach Rosenheim

Lucas kommt nach einer Saugglocken-Geburt mit einem schweren Sauerstoffmangel auf die Welt. Der Neugeborenen-Notarzt wird über eine Stunde nach Lucas' Geburt alarmiert. Knapp vier Stunden nach der Geburt ist Lucas auf der Kinderintensivstation in Rosenheim.

Tamara schreibt später in ihrem Gedächtnisprotokoll: "Wer hätte gedacht, dass eine Geburtsklinik nicht über die Voraussetzungen verfügt, einem Neugeborenen in ernstem Zustand zu helfen?"

Die RoMed Kliniken äußern sich auf Anfrage nicht zu konkreten Fällen. Allgemein heißt es: Die Versorgung der Neugeborenen in Wasserburg entspreche dem gesetzlich vorgeschriebenen Standard von Geburtskliniken (Level IV).

Level IV: Häuser der niedrigsten Versorgungsstufe

Level IV-Geburtskliniken sind Krankenhäuser, in denen in der Regel nicht rund um die Uhr Kinderärzte oder fertig ausgebildete Gynäkologen vor Ort sind. Pädiatrische Abteilungen oder Kinderintensivstationen gibt es dort nicht. Diese Level IV-Kliniken sollen nach Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) keine Risikoschwangeren aufnehmen.

Risikofaktoren sind unter anderem extremes Übergewicht, Verdacht auf Plazentalösung oder schwere Formen der Schwangerschaftsvergiftung. Geht es nach der Richtlinie des höchsten Gremiums der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, sollen diese Frauen in Krankenhäusern einer höheren Versorgungsstufe entbinden, also beispielsweise in einer Uniklinik mit Kinderintensivstation. Allerdings sind diese Richtlinien - wie auch fachliche Leitlinien - nur Empfehlungen.

Bayern mit über 50 Level IV-Häusern

568 Krankenhäuser in Deutschland bieten derzeit Geburtshilfe an, 251 davon sind Level IV-Geburtskliniken wie Wasserburg. Diese Zahlen stammen aus einer Umfrage von BR, MDR, SWR und rbb. Im Freistaat gibt es nach Angaben des bayerischen Gesundheitsministeriums insgesamt 91 Krankenhäuser mit Geburtshilfe. Davon sind 51 Level IV-Häuser. Damit hat Bayern im bundesweiten Vergleich - nach Nordrhein-Westfalen - die meisten dieser Häuser der niedrigsten Versorgungsstufe.

Hinweise auf mehrere Risikoschwangere in Wasserburg

Nach BR-Informationen haben in Wasserburg einige Risikoschwangere ihr Kind zur Welt gebracht, die nach den Richt- und Leitlinien in Kliniken einer höheren Versorgungsstufe hätten entbinden sollen. Es liegen Fallsammlungen von Mitarbeitenden sowie interne Unterlagen vor.

Ein Beispiel ist eine stark übergewichtige Patientin mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 50, bei der im Januar 2023 die Geburt eingeleitet wurde. In solchen Fällen empfiehlt die Adipositas-Leitlinie, dass Frauen ab einem BMI von über 35 vor der Schwangerschaft in einem Krankenhaus einer höheren Versorgungsstufe entbinden sollten. Das Neugeborene musste verlegt und intensivmedizinisch betreut werden. Mehrere Experten schätzen einen solchen Fall als besonders hohes Risiko ein.

RoMed Klinik und Träger äußern sich

Der RoMed Klinikverbund sowie seine Träger, die Stadt und der Landkreis Rosenheim, antworten auf Anfrage gemeinsam: "In der Wasserburger Geburtsklinik erfolgen grundsätzlich Entbindungen ab der 36. Schwangerschaftswoche, die ohne Komplikationen zu erwarten sind. Andernfalls erfolgt der Verweis in eine Geburtsklinik mit höherer Versorgungsstufe."

Nach BR-Recherchen räumt der frühere Geschäftsführer im Januar 2023 intern ein, dass Wasserburg noch nicht alle Vorgaben zu Risikoschwangeren umsetze, etwa zur rechtzeitigen Geburtsanmeldung. Zu der Zeit waren erste komplikationsreiche Geburten publik geworden.

Staatsanwaltschaft ermittelt zu Wasserburger Geburtsklinik

Seit 2023 ermittelt die Staatsanwaltschaft Traunstein zur Geburtshilfe in Wasserburg am Inn: konkret zu Geburten zwischen Oktober 2020 und Ende Januar 2023. Der Anfangsverdacht lautet auf einen Fall von fahrlässiger Tötung und mindestens elf Fälle von fahrlässiger Körperverletzung. Die Ermittlungen richten sich gegen eine Medizinerin, die die RoMed Kliniken Anfang 2023 verließ.

Im März 2025 stellten Ermittler zum zweiten Mal Unterlagen bei RoMed sicher – es handelt sich nach BR-Informationen um die Personalakte der beschuldigten Medizinerin und um Akten zu drei weiteren Geburten. Die Mütter hatten sich nach den ersten Berichten des Bayerischen Rundfunks an die Staatsanwaltschaft gewandt.

Zuvor waren im August 2024 bei einer großangelegten Durchsuchungsaktion mehr als 200 Akten in den RoMed-Häusern in Wasserburg und Rosenheim gesichert worden.

Die Ermittler fokussieren sich auf Kinder, die nach ihrer Geburt in Wasserburg in anderen Krankenhäusern intensivmedizinisch versorgt werden mussten. Die Unterlagen werden derzeit von einem Experten in Nordrhein-Westfalen begutachtet.

Ermittlungen dauern noch einige Zeit an

Die Staatsanwaltschaft Traunstein geht auf Anfrage davon aus, dass die Ermittlungen noch "erhebliche Zeit in Anspruch nehmen".

Die beschuldigte Medizinerin will sich auf BR-Anfrage nicht äußern. Ihr Anwalt betont schriftlich, alle bisherigen Gutachten hätten kein medizinisches, beziehungsweise fahrlässiges Fehlverhalten feststellen können. Bis zur rechtskräftigen Klärung gilt die Unschuldsvermutung.

Ein von RoMed in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass zwei von sieben untersuchten Geburten besser in einer Klinik mit höherem Level hätten stattfinden sollen. Diese bewertet der Gutachter als "kritisch", darunter auch die Geburt des Kindes der stark übergewichtigen Frau.

Recherchen belegen weitere Verdachtsfälle

Nach Recherchen von BR, MDR, SWR und rbb halten sich einige weitere Geburtskliniken (Level IV) nicht an Richt- und Leitlinien. Zu insgesamt 17 Fällen liegen den Reporterinnen interne Unterlagen und Gutachten vor, wonach offenbar Risikoschwangere entgegen der Richtlinie aufgenommen wurden. Nicht nur in Bayern, sondern auch etwa in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen-Anhalt.

Mediziner und Rechtsanwälte kennen weit mehr Urteile und Verdachtsfälle. Reporterinnen finden Fälle von geschädigten und toten Kindern, die in Level IV-Geburtskliniken zur Welt kamen. Viele der Fälle sind noch nicht gerichtlich geklärt.

Experte: Künftig keine Geburten ohne Kinderarzt

Neben der Aufnahme von Risikopatientinnen sehen Experten auch die Geburtshilfe sowie die Versorgung der Kinder nach der Geburt in Level IV-Häusern kritisch. Geht es nach Professor Mario Rüdiger, dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, sollten Level IV-Kliniken gar keine Geburtshilfe mehr anbieten: "Unter der Geburt kann es immer zu Problemen kommen. Es kommt darauf an, dass die Kinder ausreichend versorgt werden. Und deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, wie eine Geburt ablaufen kann, ohne dass ein Kinderarzt da ist."

Rüdiger ist zudem Chef der Neonatologie und Kinderintensivstation am Universitätsklinikum Dresden und kooperiert mit Krankenhäusern etwa in Görlitz und Bautzen, um Risikoschwangere in der Uniklinik zu entbinden und die Neugeborenen dort zu versorgen. Später werden Mutter und Kind dann in die niedrigere Versorgungsstufe zurückverlegt.

Dass Sachsen den jüngsten Zahlen zufolge neben Schleswig-Holstein die bundesweit niedrigste Säuglingssterblichkeit hat, führt er darauf zurück, dass in Sachsen Level IV-Häuser geschlossen wurden und man die Geburtshilfe zentralisiert hat.

Die ganze Recherche sehen Sie im Politikmagazin Fakt, am Dienstag, 21.45 Uhr im Ersten.

Wenn Sie Missstände melden wollen, können Sie sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: brrecherche@br.de

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