Im beschaulichen Oberhaching im Landkreis München kennt man sich. Der Ort gilt als familienfreundlich und traditionsbewusst, doch ein Verdacht spaltet die Gemeinde. Es geht um den mutmaßlichen Kindesmissbrauch durch einen Mann in kommunalen Kitas und der katholischen Kirche. Über 40 Jahre hinweg wurde er an verschiedenen Orten in Deutschland immer wieder wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern verdächtigt, angezeigt – und ist trotzdem im Dienst mit Kindern geblieben.
Oberhaching: Auffälligkeiten um Erzieher häufen sich
Der Erzieher, der alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abstreitet, taucht Ende der 80er Jahre in Oberhaching auf. Dort tritt er seinen Dienst als Erzieher in einer kirchlichen Einrichtung an, engagiert sich ehrenamtlich in der Pfarrgemeinde und betreut Kommunionkinder und Ministranten.
Später wechselt er zu den kommunalen Kitas und steigt bis zum Einrichtungsleiter auf. Irgendwann soll er Springer für alle kommunalen Kitas im Ort gewesen sein. Nach und nach häufen sich Auffälligkeiten in seinem Umgang mit Kindern.
Erzieher unter Missbrauchsverdacht – doch es passiert nichts
Es gibt Beobachtungen, Verdachtsfälle, Gerüchte und es rumort in der Gemeinde: Eine Mutter erfährt, dass ihr Sohn in die Gruppe des Erziehers kommen soll und macht sich Sorgen: "Es gab viele Gerüchte, dass er kleine Jungs küsst. Dann dachte ich mir, ich gehe auf die Gemeinde zu und melde das", sagt sie. "Der Bürgermeister und ein weiterer Herr waren da. Dann wurde mein Anliegen sehr strikt abgelehnt und ich wurde gewarnt, dass ich vorsichtig sein solle, was ich sage, weil man sonst sehr schnell eine Verleumdungsklage bekommt."
Außerdem wird ihr ein Wechsel des Kindergartens angeboten, den sie annimmt. Die Gemeinde schreibt dazu: "Besorgten Eltern im Verdachtsfall einen Wechsel der Einrichtung anzubieten, sei seit vielen Jahren gelebte und bewährte Praxis."
Sie ist nicht allein mit ihren Vermutungen: Eine damalige Kinderpflegerin berichtet, dass der Erzieher Kinder unüblicherweise geduscht haben soll. Eine Erzieherin sieht den Mann in der Toilette vor einem 3-jährigen Jungen knien. Als sie hereinkommt, habe er dem Jungen ruckartig die Hose hochgezogen. Ein Ministrant erzählt, dass er in der Sakristei bedrängt worden sei und dass der Erzieher einen anderen Jugendlichen auf der Toilette fotografiert habe.
Ein Kleinkind soll seiner Mutter gesagt haben, dass der Erzieher in die Kita-Toilette komme und seinen Penis gezeigt habe. Der Fall wird bei der Polizei gemeldet und gegen den Erzieher wird ermittelt – doch die Vorwürfe können laut Staatsanwaltschaft nicht bestätigt werden. Weiterhin ist ein polizeiliches Ermittlungserfahren gegen den Erzieher aus dem Jahr 2008 bekannt: Wegen Vergewaltigung und Nötigung.
Kindesmissbrauch: Kaum ein Fall landet vor Gericht
Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch, so Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Seit 2019 sind die Fallzahlen um 20 Prozent gestiegen – so das Bundeskriminalamt. Verurteilungen gibt es wenige. Aufgrund der schweren Beweisbarkeit enden in Deutschland weniger als neun Prozent der Ermittlungsverfahren zu sexuellem Missbrauch in einer Anklage.
Ulrike Stahlmann-Liebelt ist ehemalige Staatsanwältin und Expertin für Opferschutz und weiß, wie kompliziert die rechtliche Lage ist: "Ich kenne kein Rechtsgebiet, wo es so schwierig ist, einen Nachweis zu erbringen. Und das ist dann auch der Grund dafür, dass es im Verhältnis zu der Anzahl der Anzeigen wenig Verurteilungen gibt", sagt sie.
Viele der mutmaßlichen Taten des Erziehers sind aus rechtlicher Sicht verjährt und können nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Mindestens fünf Ermittlungsverfahren wurden wieder eingestellt. Seit 2023 läuft ein sechstes Ermittlungsverfahren gegen den Erzieher.
Besserer Schutz für Kinder: Maßnahmen scheitern oft in der Umsetzung
In Oberhaching erhalten die Gemeinde-Kitas 2018 ein Schutzkonzept. Das ist inzwischen verpflichtend, beinhaltet einen Verhaltenskodex und Notfallpläne im Verdachtsfall. Laut Fachberatungsstellen verhindern fehlendes Bewusstsein und Personalmangel aber oft die Umsetzung solcher Konzepte.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung fordert mehr Schulungen für Staatsanwaltschaft, Polizei und Gericht und mehr Kompetenzzentren für eine kindgerechte Justiz. Dafür gibt es sogenannte "Childhood-Häuser", wo richterliche Anhörungen in einem geschützten Rahmen mit Kindern aufgezeichnet werden, um Warte- und Verfahrenszeiten zu verkürzen und Kindern eine Aussage vor Gericht zu ersparen. Doch es gibt bislang nur zehn solcher Häuser in Deutschland.
Auf gesetzlicher Ebene bewegt sich etwas: Ein Gesetzentwurf zur Stärkung der Strukturen gegen sexuellen Missbrauch soll das Thema dauerhaft auf Bundesebene verankern, doch noch ist es nicht in Kraft getreten. Und: Was bleibt, ist der bundesweite Personalmangel in den Kitas, der die Umsetzung von Schutzkonzepten erschwert.
In Oberhaching sei das Arbeitsverhältnis mit dem Erzieher mittlerweile "aus gesundheitlichen Gründen" beendet worden, so die Gemeinde. Theoretisch kann er überall und immer wieder als Erzieher arbeiten.
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