Der junge Mann, der in Dillingen an der Donau mit einem Luftgewehr auf vorbeifahrende Autos geschossen haben soll, war nach Recherchen Teil einer islamistischen Chatgruppe, in der Gewaltfantasien geteilt und Feindbilder verbreitet wurden. Das haben BR und die SWR Rechercheunit aus Ermittlerkreisen erfahren.
Radikalisierung in Chatgruppen und Verantwortung sozialer Medien
In der Gruppe seien Juden und Kurden als Feinde bezeichnet worden, außerdem habe es Gespräche über Waffen gegeben. Nach Informationen aus Ermittlerkreisen soll der beschuldigte 22-Jährige dabei eine treibende Rolle gespielt haben. Er habe geäußert, etwas tun zu wollen, so die Ermittler. Die Chatgruppe bestand demnach erst seit wenigen Monaten, ihre Mitglieder waren alle aus den Jahrgängen 2001 bis 2004. Und: Sie sollen sich auch in der realen Welt getroffen haben.
Radikalisierung über soziale Netzwerke sei kein Einzelfall, sagt der Terrorexperte Hans-Jakob Schindler von der Forschungsorganisation Counter Extremism Project. Er fordert, dass Plattformbetreiber stärker mit den Behörden zusammenarbeiten müssten. Soziale Medien wüssten sehr genau, wer sich dort wie verhalte, sagt Schindler. Wenn sie in der Lage seien, in Sekundenschnelle kommerzielle Daten für Werbung auszuwerten, könnten sie auch erkennen, wenn sich Nutzer in extremistische Richtungen entwickelten – insbesondere, wenn diese Radikalisierung in Gewalt umzuschlagen drohe. "Und dann wäre auch zu erwarten, dass diese Firmen ihre Fähigkeiten eben auch dafür einsetzen, die Allgemeinheit zu schützen. In den Fällen, wo sie erkennen, dass es Richtung Gewalt geht, sollten sie einen Warnhinweis an die Sicherheitsbehörden geben, wozu sie gerade gesetzlich nicht verpflichtet sind", berichtet Schindler.
Vom unauffälligen Schüler zum mutmaßlichen IS-Sympathisanten?
Die Generalstaatsanwaltschaft München hält den Verdächtigen für einen Sympathisanten der Terrororganisation IS. Schon vor sechs bis sieben Jahren, während seiner Schulzeit, sei der gebürtige Dillinger aufgefallen, erfahren SWR und BR aus Schulkreisen. So habe er aufgrund seiner Religion den Kontakt zu bestimmten Lehrerinnen gemieden. Die Schule habe daraufhin das Elternhaus, die Polizei und entsprechende Stellen eingeschaltet – also Fachkräfte, die mit dem Thema Islamismus vertraut sind, so die Information aus Lehrerkreisen. Nach vielen Gesprächen seien alle – die Lehrer, die Polizei und der Schulpsychologe – der Meinung gewesen, dass der Schüler nicht radikal sei. Ab dem Übergang in die Oberstufe sei der Schüler dann nicht mehr auffällig gewesen.
Aber: Zwei Jahre nach dem Abitur änderte sich das Bild offenbar. Laut Generalstaatsanwaltschaft soll der Beschuldigte im September auf der B16 bei Dillingen mit einem Luftgewehr auf vorbeifahrende Fahrzeuge geschossen haben – insgesamt 22 Mal. Sein Ziel, so der Vorwurf, sei es gewesen, Nichtmuslime, sogenannte "Ungläubige", zu treffen. Verletzt wurde niemand, doch es entstand Sachschaden.
Früherkennung von Radikalisierung bleibt schwierig
Wie es so weit kommen konnte, ist unklar. Terrorexperte Schindler sagt, Lehrer, auf Radikalisierung spezialisierte Fachkräfte und Polizei könnten nur einen begrenzten Einblick in das Leben junger Menschen gewinnen. Ein Verdacht allein reiche selten aus, um konkrete Maßnahmen zu ergreifen.
Auch das Violence Prevention Network, das unter anderem in Bayern Menschen betreut, die in extremistische Szenen abrutschen, warnt vor vorschnellen Schlüssen. Religiosität sei kein Hinweis auf Radikalisierung, betont Geschäftsführer und Pädagoge Thomas Mücke. Entscheidend seien vielmehr emotionale und soziale Konflikte – fehlende Stabilität im Alltag, verbunden mit Gewaltfantasien und Feindbilddenken.
Allgemein betont Mücke, dass die Schulen "eine ganz zentrale Bedeutung" haben, genauso wie das Elternhaus: "Denn junge Menschen, die von extremistischen Erzählungen angesprochen werden und die sich radikalisieren, das ist ein Prozess, der ja längere Zeit dauert. Die wenden sich nicht von selbst aus an eine Beratungsstelle. Also wir sind als Beratungsstellen immer darauf hingewiesen, dass wir aus dem sozialen Umfeld Hinweissignale bekommen."
Ob der 22-Jährige tatsächlich aus ideologischer Überzeugung zur Waffe griff, muss nun die Justiz klären. Bis zu einem möglichen Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Seine Eltern wollten sich auf Anfrage nicht äußern. Ein Anwalt des Beschuldigten war für BR und SWR nicht erreichbar.
Im Video: Schüsse in Dillingen - Welche Rolle spielen islamistische Chats?
Der 22-Jährige aus Dillingen an der Donau, der mit einem Luftgewehr auf Autos geschossen haben soll, war Teil einer islamistischen Chatgruppe.
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